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Interview mit Stefan Müller vom Genossenschaftsverband über Bürokratie in Deutschland

Interview

„Mehr Bürokraten schaffen auch mehr Bürokratie“

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    Stefan Müller ist gelernter Banker und war von 2002 bis 2024 Bundestagsabgeordneter der CSU. Seit dem Sommer 2024 ist er Chef des Genossenschaftsverbands Bayern.
    Stefan Müller ist gelernter Banker und war von 2002 bis 2024 Bundestagsabgeordneter der CSU. Seit dem Sommer 2024 ist er Chef des Genossenschaftsverbands Bayern. Foto: Hendrik Steffens/GVB

    Herr Müller, Sie haben mehr als 20 Jahre lang politische Verantwortung getragen, bevor Sie an die Spitze des Genossenschaftsverbands gewechselt sind. Mit etwas Abstand können Sie uns vielleicht Erklärungshilfe geben: Warum ist das Land bei vielen Themen, wie etwa dem Bürokratieabbau, scheinbar blockiert, wo doch Unternehmen, Bürger und Politik einhellig der Meinung sind, dass hier dringend etwas passieren muss?
    STEFAN MÜLLER: Ein Erkenntnisproblem gibt es jedenfalls nicht, das ist auch mein Eindruck. Wir brauchen einfach zu lange für Entscheidungen. Das betrifft gar nicht die parlamentarischen Prozesse an sich. Aber wenn wir etwa über Bankenregulierung sprechen, geht es oft um europäische Vorgaben, die dann in Deutschland umgesetzt werden. Dabei wird aber meist noch einmal eins draufgesetzt. Umgekehrt ist es dann fast unmöglich, diese zusätzlichen Hürden wieder abzubauen. Ich würde mir wünschen, dass die vielen guten Vorschläge, die es ja gibt, schneller umgesetzt werden. Aber das setzt voraus, dass es einen klaren politischen Willen gibt, und den konnte ich in den vergangenen Jahren nicht erkennen, auch nicht vor der aktuellen Wahlperiode. Bürokratieabbau darf nicht nur ein Schlagwort bleiben. Die nächste Bundesregierung muss einen verbindlichen Abbauplan vorlegen. Für jedes neue Gesetz müssen zwei alte raus, um Überregulierung aktiv zu reduzieren.

    Wo müsste man ansetzen?
    MÜLLER: In dieser Wahlperiode sind allein beim Bund über 12.000 Stellen neu geschaffen worden. Mehr Bürokraten schaffen auch mehr Bürokratie. Wir brauchen ein Effizienzprogramm für den Staat: Wir müssen unsere Prozesse optimieren, digitaler werden und auf die Kosten achten. Wir bräuchten einen großen Wurf, auf den sich Bund, Länder und Kommunen verständigen. So etwas scheitert nach meinen Erfahrungen immer dann, wenn es konkret wird. Statt überregulierter Prozesse braucht es ein Entfesselungspaket für den Mittelstand: weniger Dokumentationspflichten, eine praxistaugliche Verbraucherschutzpolitik, eine klare Fokussierung auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und das Leitbild aufgeklärter Verbraucherinnen und Verbraucher.

    Ist das auch eine Mentalitätsfrage? Wollen die Deutschen immer alles besonders eindeutig geregelt haben?
    MÜLLER: Weniger Regeln bedeuten zunächst einmal mehr Selbstverantwortung. Wenn ich auf meine Zeit als Politiker schaue, dann war es tatsächlich eher so, dass ich in meinen Bürgersprechstunden aufgefordert wurde, mich für das Schließen neu erkannter Gesetzeslücken einzusetzen. Insofern: Ja, das ist nicht nur ein politisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Thema. Wir müssen auch bereit sein, ein Mehr an Selbstverantwortung anzunehmen.

    Was können Bürger oder Unternehmen tun, um Veränderungen zu unterstützen?
    MÜLLER: Man muss Selbstverantwortung auch wollen. Das ist eine Mentalitätsfrage, aber ich glaube, die Bereitschaft, gemeinsam etwas voranzubringen, ist in Deutschland vorhanden. Gerade im unternehmerischen Bereich sehen wir viele vielversprechende Ansätze. Das ist ja auch gerade das, was Genossenschaften auszeichnet. Ein Beispiel sind Energiegenossenschaften, der Bereich, in dem wir das größte Wachstum haben. Wenn niemand anders eine Lösung anbietet, gründen Bürgerinnen und Bürger eine Genossenschaft, um eine dezentrale Energieversorgung aufzubauen, zum Beispiel ein Windrad zu bauen. Solche Initiativen zeigen, dass Veränderung auch von unten kommen kann. Innovative Modelle sehen wir auch in der Unternehmensnachfolge. Wir hatten schon Projekte, bei denen kein Nachfolger in ein Unternehmen einsteigen wollte. Jetzt sind die Mitarbeitenden in einer Genossenschaft Eigentümer des Unternehmens. Diese Idee ist ausbaufähig und kann künftig auch bei Unternehmen tragen, bei denen man es vielleicht nicht unbedingt erwartet.

    Aufklärungsarbeit können Sie in Ihrer neuen Rolle auch in die andere Richtung leisten. Wie erklären Sie Unternehmern und Verbandskollegen, warum manches in der Politik mehr Zeit braucht?
    MÜLLER: Ich versuche zu vermitteln, dass in einem demokratischen Rechtsstaat Entscheidungen einfach dauern, selbst wenn der Wille da ist, Dinge zu beschleunigen. Ich meine damit nicht nur die vielen Abstimmungsebenen, sondern, um allein beim Bund zu bleiben, dass zwischen einem Kabinettsbeschluss bis zur Verabschiedung eines Gesetzes im Bundestag oder Bundesrat zwangsläufig Zeit ins Land geht – und das ist auch richtig so. Es muss ausreichend Gelegenheit geben für die gewählten Volksvertreter, sich mit den Themen zu beschäftigen. Angesichts der Themenfülle und der zunehmenden Spezialisierung in der Politik, ist es schon schwer genug, den Überblick zu behalten. Entscheidungen können in der Politik einfach nicht so schnell getroffen werden wie in Unternehmen.

    In Ihrer neuen Rolle ist das anders. Genießen Sie das?
    MÜLLER: Wenn wir heute im Verband eine Veränderung entscheiden wollen, besprechen wir das und setzen es dann um. Das ist völlig anders. Ich habe früher oft erlebt, dass mittelständische Unternehmer frustriert waren, weil sie den Eindruck hatten, dass alles zu lange dauert. Aber wenn ich ihnen erklärt habe, dass sie doch selbst wollen, dass Gesetze sorgfältig beraten und Sachverständige angehört werden, verstanden sie das oft besser. Was ich jetzt genieße, ist, dass ich zwar nicht in weniger Gremien mitarbeite, die Diskussionen dort aber eher an der Sache orientiert sind, wenig ideologiegetrieben und in der Regel auch frei von persönlichen Befindlichkeiten. Das ist in der Politik anders.

    Stimmungen und nicht unbedingt Sachargumente entscheiden meist auch Wahlen. Wie nehmen Sie das Land so kurz vor der Bundestagswahl wahr?
    MÜLLER: Ich spüre eine klare Erwartungshaltung. Wenn ich mit unseren genossenschaftlichen Unternehmen spreche – ob aus dem landwirtschaftlichen Bereich, der IT, den Energiegenossenschaften oder dem Bankensektor –, dann höre ich überall, dass es große Erwartungen gibt, dass sich nach der Wahl etwas ändert. Auch die Entwicklungen in den USA spielen da eine Rolle: Während der neu gewählte US-Präsident Donald Trump ankündigt, in den kommenden Jahren 500 Milliarden Dollar in Künstliche Intelligenz investieren zu wollen, beschäftigen wir uns mit der Aufbewahrungsfrist von Belegen. Man muss Trump nicht gut finden, aber seine Politik erzeugt zusätzlichen Druck. Und die Hoffnung ist groß, dass wir als Land die richtigen Weichen stellen.

    In welche Richtung muss es danach weitergehen?
    MÜLLER: Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands entscheidet sich in dieser Dekade, davon bin ich überzeugt. Andere Regionen der Welt wachsen schneller, sind innovativer und digitaler. Deutschland steht noch gut da, aber nicht wegen der großen Konzerne, sondern wegen des starken Mittelstands. Aber diese Stellung behält man nicht im Schlafwagen. Das Wachstum in Deutschland konzentriert sich auf die falschen Bereiche: Während die Wirtschaft um 0,8 Prozent schrumpft, ist die Belastung durch Bürokratie um 20 Prozent gestiegen. Und wir haben weltweit die höchsten Energiekosten. All das bringt das Geschäftsmodell Deutschland in Gefahr.  Ich glaube, alle Parteien der Mitte haben das erkannt. Und ich hoffe, dass die nächste Bundesregierung – egal in welcher Konstellation – nicht der Mut verlässt, die notwendigen Veränderungen anzugehen.

    Zur Person

    Stefan Müller, 49, ist seit Sommer 2024 Chef des Bayerischen Genossenschaftsverbands. Der gelernte Banker war von 2002 bis 2024 Bundestagsabgeordneter und parallel lange Zeit Parlamentarischer Geschäftsführer der CSU sowie von Dezember 2013 bis Oktober 2017 Parlamentarischer Staatssekretär im Forschungsministerium. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter.

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    1 Kommentar
    Franz Xanter

    Sehr schön und nachvollziehbar wird hier ausgeführt, woran die Entbürokratisierung nach wie vor scheitert! Natürlich scheint es politisch und insbesondere aus verantwortlicher Sicht einfacher, wenn man mit dem Strom fließt. Da ist man nicht in der Situation, dass man seinen Standpunkt erklären, eine Sache bewerten und optimieren muss, sondern kann sich ganz im Sinne des Nichtstun sonnen. Aber natürlich ist es auch einfacher und persönlich vorteilhafter, wenn man gewissen angeblich notwendigen Gruppierungen und Meinungen folgt, als selbst eine logisch fundierte und notwendige eigene Meinung in der Sache vertritt.

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