

Was hat das Neun-Euro-Ticket gebracht? Eine Bilanz
Drei Monate lang reisten Millionen Menschen mit dem Neun-Euro-Ticket in Bussen und Regionalbahnen durch ganz Deutschland. Ende August endet der Aktionszeitraum. So sehen Nutzer und Experten das verkehrspolitische Experiment.
52 Millionen verkaufte Tickets, plus mehr als zehn Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, die den Rabatt automatisch über ihre Monatstickets bekommen haben und ein Tarifsystem ohne komplizierte Verästelungen: Drei Monate konnten die Deutschen mit dem Neun-Euro-Ticket durchs Land fahren. Doch was hat es unterm Strich gebracht? Hat es den Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert? Wie war die Situation in den Zügen? Eine Bilanz.
Oliver Wolff, Geschäftsführer VDV (Verband Deutscher Verkehrsunternehmen): Das Ticket ist ein großer Erfolg und hat seine Wirkung nicht verfehlt. Wir haben etwa 20 Prozent Neukunden erreicht, das ist eine wichtige Entwicklung. Dabei ist der Preis sicherlich der wichtigste Grund, dass Leute den ÖPNV nutzen.

Aber das Ticket ist nicht nur preislich zu sehen, es geht vor allem auch darum, dass ein gutes Angebot seine Kunden findet. Da müssen wir insbesondere im ländlichen Raum mehr tun – der braucht ein besseres und anderes Angebot. Da wissen wir sehr genau Bescheid, was zu tun ist. Außerdem ist auch die einfache und bundesweite Nutzung ein enormer Faktor. Drei Monate Neun-Euro-Ticket haben mit rund 1,8 Millionen Tonnen etwa so viel CO2 eingespart, wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen bringen würde.
"Drei Monate Neun-Euro-Ticket haben etwa so viel CO2 eingespart wie ein Jahr Tempolimit auf Autobahnen."
Das Ticket hat also nicht nur die Bürgerinnen und Bürger finanziell entlastet, sondern auch eine eindeutig positive Wirkung fürs Klima. Das ist ein zentraler Aspekt, weswegen es sich lohnt, auszubauen. Dies ist einerseits Ländersache, andererseits ist es ein Instrument, die Klimaschutzziele zu erreichen, und da ist vertraglich der Bund in der Pflicht. Wir sind der Meinung, der Bund muss einen erheblichen Beitrag leisten.
Der Pendler (anonym): Da ich in München wohne und in Augsburg arbeite, muss ich jeden Tag pendeln. Bis Juni bin ich die Strecke meistens mit dem Auto gefahren, da hätte ein Zugticket mehr als 200 Euro im Monat gekostet. Bei ungefähr gleichen Preisen fahre ich normalerweise mit dem Auto, weil das zuverlässiger und entspannter ist. Seit Juni habe ich das Neun-Euro-Ticket und nutze immer die Bahn. Die ist aber oft verspätet und manchmal so voll, dass ich einen Zug später nehmen und dann noch länger am Bahnhof warten muss. Deshalb finde ich die Idee prinzipiell gut, aber das Ticket sollte etwas teurer sein – 50 oder 60 Euro monatlich fände ich gut. Damit könnte man vermeiden, dass die Züge ständig so überfüllt sind. Nicht jeder würde dann einfach so mit dem Zug fahren. Und als Pendler würde ich das Auto trotzdem noch stehen lassen.
Christian Bernreiter, bayerischer Verkehrsminister: Das Neun-Euro-Ticket war mehr Fluch als Segen. Ich verstehe, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger über den deutschlandweit günstigen Fahrpreis gefreut haben, aber die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen: Das Auto wurde kaum stehen gelassen. Das Ticket wurde vor allem für Ausflüge verwendet. Pendler im ländlichen Raum haben praktisch nicht profitiert. Nach Erhalt des Status quo beim Angebot und den finanziellen Mitteln für einen weiteren Ausbau des ÖPNV ist der Tarif für mich erst auf Platz drei der Prioritätenliste.

Der Bund muss die ÖPNV-Branche bei den massiv gestiegenen Energiepreisen unterstützen und endlich die Mittel erhöhen, damit das ÖPNV-Angebot aufrechterhalten werden kann. Konkret geht es um 1,5 Milliarden Euro. Der Bund ist hier laut Grundgesetz zuständig und darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Bevor wir über weitere Billigtickets diskutieren, brauchen wir sehr schnell sehr viel mehr Geld im System. Zum Vergleich: Die Länder erhalten aktuell jährlich 9,5 Milliarden Euro. Eine Fortführung des Neun-Euro-Tickets würde laut Bundesfinanzminister Lindner 14 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Man muss kein Mathematiker sein, um festzustellen, dass die Länder das niemals finanzieren können. Diese Finanzierung müsste vollständig vom Bund kommen.
"Die Finanzierung müsste vollständig vom Bund kommen."
Britgitte Muhr, Rentnerin aus Memmingen: Ich habe keinen Führerschein und bin deshalb auf den ÖPNV angewiesen. Wegen meiner geringen Rente kann ich mir den aber nicht so oft leisten. Seit Juni fahre ich sehr oft mit dem Bus ins Schwimmbad oder mit einer Freundin ins Allgäu zum Wandern. Für uns ist das Neun-Euro-Ticket ideal. Jetzt gerade waren wir in Immenstadt auf dem Gschwender Horn. Da hätten wir normal mit dem Regio-Ticket Allgäu-Schwaben fahren müssen, für über 30 Euro. So komme ich einfach mehr rum, war auch schon in Stuttgart mit dem Zug, das war klasse. Aber es sind auf jeden Fall erschwerte Bedingungen. In den Zügen ist es so extrem voll – da bekommt man Platzangst. Die sollten einfach mit mehr Waggons fahren. Man muss da auch infrastrukturell mehr machen. Unsere Bilanz fällt also größtenteils positiv aus und wir würden das Neun-Euro-Ticket weiter behalten, aber uns ist klar, dass das nicht weiter so günstig angeboten werden kann.
Christoph Butterwegge, Armutsforscher: Mein Resümee zum Neun-Euro-Ticket fällt positiv aus – insbesondere mit Blick auf ärmere Bevölkerungsgruppen. Die konnten wegen der zu geringen Anteile im Hartz-IV-Regelbedarf für Mobilität bisher selten oder nie verreisen. Das hieß oft auch, Kontakte zu Verwandten, Freunden und Bekannten nicht halten zu können. Das Ticket hat insofern eine starke soziale Komponente und wurde offenbar viel genutzt – man hat gesehen, dass sich die Züge auch mit Menschen gefüllt haben, die vorher meist zu Hause bleiben mussten.

Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss bei Hartz IV-Beziehenden das soziokulturelle Existenzminimum gesichert und die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen möglich sein. Dies heißt, dass man auch mal ins Kino oder Theater gehen oder sich mit Freunden treffen kann. Dafür müssen die Menschen in aller Regel den Öffentlichen Nahverkehr nutzen und entsprechend Geld haben. Das Neun-Euro-Ticket hat aber auch gezeigt, dass die Verkehrsinfrastruktur nicht in einem guten Zustand ist. Es müsste mehr Gleisanschlüsse, mehr Personal und mehr Züge geben, damit niemand in überfüllten Waggons fahren muss. Ich wünschte, das Neun-Euro-Ticket würde weiterlaufen, denn die Kosten sind für den Staat nicht so gigantisch, dass er sie nicht tragen könnte.
"Die Kosten für den Staat sind nicht so gigantisch, dass er sie nicht tragen könnte."
Geld ist ja genug da, wie man nicht zuletzt beim Sondervermögen für die Bundeswehr sieht, wo über Nacht 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt wurden. Von der Zielsetzung her würde ich mir wünschen, dass die Bundesrepublik in nicht zu ferner Zukunft einen ticketfreien, für Nutzerinnen und Nutzer kostenfreien Nahverkehr bekommt, den profitable Unternehmen, Besserverdienende sowie Hochvermögende durch höhere Steuern finanzieren, damit allen Gesellschaftsmitgliedern eine bessere Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung steht.
Der Lokführer (anonym): Prinzipiell finde ich das Neun-Euro-Ticket gut. Aber die Belastung hat extrem zugenommen. Ich bin immer zwischen Lindau und dem Allgäu unterwegs und da ist seitdem noch mehr los. Die Züge sind so voll, dass Schaffnerkollegen manchmal gar nicht mehr durchkommen. Immer wieder werden sie von Fahrgästen dumm angeredet oder beleidigt – dabei können die auch nichts für die aktuelle Situation. Die Leute lassen ihre Wut an uns aus. Wir bräuchten einfach mehr Waggons und mehr Personal. Manche Strecken muss ich auch ohne Begleitung komplett allein fahren. Jetzt gerade erst bin ich von Oberstdorf nach Immenstadt allein gefahren. Wenn es da irgendwelche Störungen gibt, Fahrgäste Fragen haben oder etwa die Toilette nicht funktioniert, dann kann ich nichts machen. Die Züge sind auch deshalb oft verspätet, weil wegen der Überfüllung teilweise die Türen nicht oder später schließen können. Da kommen drei Minuten schnell zusammen.
Philipp Kosok, Forscher bei Agora Verkehrswende: Wir können auf jeden Fall feststellen: Es gibt die Menschen, die bisher nur im eigenen Auto unterwegs waren und jetzt im Aktionszeitraum das erste Mal seit langem wieder in Bus und Bahn eingestiegen sind – vor allem im Freizeitbereich. Positiv ist auch, dass der ÖPNV mit diesem Ticket für ganz viele Menschen deutlich einfacher zugänglicher geworden ist, denn in Deutschland ist der Tarifdschungel sehr dicht. Mindestens diese Einfachheit sollten wir auf jeden Fall beibehalten, das ist das klare Feedback der Fahrgäste. Allein schon das spricht für ein Nachfolgeticket. Was wir aber auch sehen: Es gibt weiterhin eine große Gruppe von Menschen, die auch mit diesem sehr attraktiven Angebot nicht zu erreichen ist. Das hat meistens die Ursache, dass diese Menschen im kleinstädtischen oder ländlichen Raum wohnen, wo das Angebot einfach so schlecht ist, dass es keine wirkliche Alternative zum eigenen Auto ist.
"Im ländlichen Raum ist das Angebot so schlecht, dass es keine Alternative zum eigenen Auto ist."
Das sehen wir aktuell als das größere und drängendere Problem. Denn genau da liegt der Schlüssel, um die Klimabilanz des Verkehrs deutlich zu verbessern. Am Ende ist entscheidend, dass die Menschen den ÖPNV in ihren Alltag einbauen. Auf dem Weg zur Arbeit haben in diesem Aktionszeitraum nur wenige Neukunden das Neun-Euro-Ticket genutzt. Das ist aber nicht überraschend, weil es ein sehr kurzer Zeitraum war. Üblicherweise stellen Menschen nicht von heute auf morgen ihre Alltagsmobilität um. Sollte es ein attraktives Nachfolgeticket geben und einen Angebotsausbau, dann ist unsere Erwartung, dass auch die Neukunden beginnen, nach und nach ihre Alltagswege umzustellen. Das heißt, erst auf die lange Sicht werden wir da die deutlich positiven Effekte für die Klimabilanz sehen können.
