Die WTO einigt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner
Nach tagelangem Feilschen setzt die Welthandelsorganisation den Patentschutz für Covid-19-Vakzine Zeit aus. Doch fehlender Impfstoff ist nicht mehr das Hauptproblem der ärmeren Länder.
Am Freitagmorgen, kurz vor Sonnenaufgang, haben sie es ein letztes Mal versucht. Die Delegationschefs bei der Welthandelsorganisation (WTO) kamen nach tagelangem Feilschen und Schachern in Genf noch einmal zusammen. Ermüdet und erschöpft, segneten die Handelsdiplomaten die Beschlüsse der 12. WTO-Ministerkonferenz ab – und beklatschten sich schließlich selbst. „Seit langem hat die WTO nicht mehr so viele multilaterale Ergebnisse erzielt“, jubelte die Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala.
Auf der ersten WTO-Ministerkonferenz seit 2017 einigten sich die Mitglieder auf eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Impfstoffe und das Streichen schädlicher Fischereisubventionen. Zudem will sich die WTO angesichts drohender Hungersnöte stärker für die Ernährungssicherheit einsetzen, etwa durch Vermeidung von Exportrestriktionen für Nahrungsmittel. Indiens Wirtschaftsminister Shri Piyush Goyal, der die Gespräche immer wieder zum Stillstand gebracht hatte, sah schon am Donnerstag einen Grund „zum Feiern“. Doch gerade der Beschluss zu den Patenten auf Covid-19-Vakzine zeigt, dass die WTO-Mitglieder den großen Wurf nicht wagten.
WTO-Generalsekretärin Ngozi Okonjo-Iweala machte Druck
Letztlich setzten sich die WTO-Mitglieder nach insgesamt 20 Monaten zäher Patentverhandlungen selbst unter Druck, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Damit wollten sie sich selbst und der Welt beweisen, dass die oft gescholtene WTO noch zählt. Ursprünglich hatten Indien und Südafrika im Oktober 2020 einen Antrag zu den Covid-19-Patenten eingereicht, worauf die EU, Deutschland, die USA, Großbritannien und die Schweiz zähen Widerstand leisteten. Auch die seit mehr als einem Jahr amtierende WTO-Chefin Okonjo-Iweala trieb die Delegationen aus allen Ecken der Welt immer wieder an, „zu liefern“. Die energische Nigerianerin wollte tunlichst vermeiden, dass sie nach ihrem ersten WTO-Gipfel mit leeren Händen dasteht.
„Die EU hat sehr hart gearbeitet, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen“, beteuerte EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis. Der Brüsseler Kommissar musste die Interessen sämtlicher EU-Staaten bei den Genfer Gesprächen verteidigen. Konkret sollen Unternehmen aus bestimmten Entwicklungsländern diejenigen Patente nutzen dürfen, die für die Herstellung und Lieferung von Covid-19-Impfstoffen erforderlich sind. Und zwar „ohne die Zustimmung des Rechteinhabers“ einzuholen. Etablierte Pharmafirmen aus Europa oder den USA müssen also auf ihre Patente vorübergehend verzichten. Unternehmen aus armen Regionen wie Afrika hingegen können die Patente nutzen, um eine Vakzin-Massenproduktion anzukurbeln. Diese Regelung soll bis zu fünf Jahre gelten. So lautet im Kern der nun verabschiedete Plan.
Hilfsorganisation sind enttäuscht von dem Kompromiss
Doch Impfstoffe haben bereits an Bedeutung verloren. Biontech, Pfizer, Moderna und Co produzieren nach Angaben des internationalen Branchenverbandes IFPMA schon weit mehr als nötig. „Sie könnten in diesem Jahr mindestens 20 Milliarden Impfdosen herstellen, während der Bedarf wahrscheinlich bei etwa sechs Milliarden liegt“, sagte IFPMA-Generaldirektor Thomas Cueni unserer Redaktion. Er schlägt vor, sich auf die „wirklichen Herausforderungen“ beim Zugang zu Covid-19-Impfstoffen zu konzentrieren. Es gehe um die „Beseitigung von Handelshemmnissen, der Bewältigung von Verteilungsproblemen und die Stärkung von Gesundheitssystemen“ in armen Ländern.
Auch Hilfsorganisationen äußern sich frustriert über den „faulen Kompromiss“ von Genf. „Für den Bereich globale Gesundheit in Zeiten einer Pandemie ist das Ergebnis besonders ernüchternd“, urteilt Nelly Grotefendt, Referentin für Handelspolitik beim Forum Umwelt und Entwicklung. Die Helfer kritisieren vor allem, dass der WTO-Beschluss Medikamente gegen Covid-19 und Diagnostika zur Erkennung der Krankheit nicht abdeckt.
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