Die Kunst der Geheimhaltung: Wer ist Cornelius Gurlitt?
Augsburgs Staatsanwaltschaft zeigt, warum die bei Gurlitt beschlagnahmten Bilder tatsächlich ein Sensationsfund sind. Und warum sie nun ein richtiges Problem hat.
Einen Gerichtssaal weiter sitzt der frühere Waffenlobbyist Karlheinz Schreiber. Nach mehr als einem Jahr Prozess sind für Dienstag die Plädoyers seiner Verteidiger vorgesehen. Vielleicht hat der Kaufmann aus Kaufering für einen Moment gedacht, der riesige Medienrummel im Augsburger Strafjustizzentrum gelte ihm. Das wäre noch mal was gewesen. Immerhin war Schreibers Auslieferung aus Kanada im August 2009 die Ursache für den letzten ganz großen Andrang nationaler und internationaler Medien in der Stadt.
Größter Schatz verschollener Kunstwerke seit Nazi-Zeit
Doch im Saal 179 geht es um etwas ganz anderes. Die Augsburger Staatsanwaltschaft hält eine Pressekonferenz ab zur Entdeckung des größten Schatzes verschollener Kunstwerke seit der Nazi-Zeit. Zu Karlheinz Schreiber gibt es nur zufällige Parallelen: Der Beschuldigte im Fall des Raubkunst-Fundes, Cornelius Gurlitt, ist wie Schreiber 79 Jahre alt. In beiden Fällen geht es auch um Steuerhinterziehung. Schreibers Geschichte spielt in der mysteriösen Welt der Rüstungsexporte, der Fall Gurlitt trägt sich in der oftmals nicht minder mysteriösen Welt der Kunst und des Kunsthandels zu.
Da enden die Gemeinsamkeiten. Während Karlheinz Schreiber sich seit Jahrzehnten immer wieder öffentlich gemeldet hat, ist Cornelius Gurlitt ein Phantom. Der Sohn des umstrittenen Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, der für das NS-Regime einer von vier offiziellen Verwertern sogenannter „entarteter Kunst“ war, lebt offensichtlich seit Jahrzehnten sehr zurückgezogen. Bis heute.
Sagenhafter Kunstschatz in Schwabinger Wohnung entdeckt
In seiner Wohnung in einem Appartement-Haus in München-Schwabing wurde der sagenhafte Kunstschatz am 28. Februar 2012 entdeckt. Wahrscheinlich stammen die 1400 Werke aus dem Nachlass seines Vaters. Doch gemeldet ist Gurlitt in München nicht. Er hat in Deutschland auch keine Steuernummer, bezieht keine Rentenversicherung und ist nicht hierzulande krankenversichert.
Wie am Montag bekannt wird, hat Gurlitt seinen Erstwohnsitz wohl in Österreich. Er besitzt ein Haus im noblen Salzburger Stadtteil Aigen. Dort soll der Sonderling jahrzehntelang gelebt haben. Doch das Einfamilienhaus wirkt laut österreichischen Medienberichten ungepflegt und unbewohnt. Keiner der Nachbarn scheint je Kontakt mit ihm gehabt zu haben. In München ist er auch seit einem Jahr nicht mehr gesehen worden. Wo ist Cornelius Gurlitt jetzt?
Wo ist Cornelius Gurlitt jetzt?
Selbst die Ermittler haben keinen Kontakt zu ihm. Das sagen Augsburgs Leitender Oberstaatsanwalt Reinhard Nemetz und der Leiter des Zollfahndungsamts München, Siegfried Klöble. „Und es interessiert uns derzeit auch nicht, wo er sich aufhält“, ergänzt Chefankläger Nemetz zur Überraschung der Journalisten. Der Beschuldigte sei vernommen worden, das genüge momentan. Einen Grund für einen Haftbefehl habe es nicht gegeben, weil der dringende Tatverdacht fehle. Selbst die Frage, ob Cornelius Gurlitt überhaupt noch lebt, können die Ermittler nicht mit Bestimmtheit beantworten.
Ebenfalls erstaunlich ist die Stellungnahme der Salzburger Staatsanwaltschaft vom Dienstag: Das Haus in Salzburg sei bisher nicht durchsucht worden. „Es gibt augenblicklich noch kein Verfahren“, sagt Sprecher Marcus Neher. Im Dezember 2011 habe es eine Anfrage der Staatsanwaltschaft Augsburg wegen eines möglichen Finanzvergehens gegeben. „Dabei ist es um Kunsthandel gegangen, nicht um illegale Kunstwerke“, so Neher. Bleibt die Spekulation, ob Cornelius Gurlitt in seinem Salzburger Haus weitere Kunstschätze gelagert hat.
Werke großer Meister wie Otto Dix, Marc Chagall oder Henri Matisse
Das aber würde die Fantasie beinahe überstrapazieren zu einem Zeitpunkt, da eben erst ein Jahrhundertfund öffentlich durch Recherchen des Magazins Focus bekannt wurde. Der Leitende Oberstaatsanwalt Nemetz, der Zollfahnder Siegfried Klöble und die Kunsthistorikerin Meike Hoffmann von der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ an der Freien Universität Berlin bestätigen im Wesentlichen die bisherigen Berichte. Es geht also um eine Entdeckung von schier unschätzbarem Wert. Sogar etliche bislang unbekannte Werke großer Meister wie Otto Dix, Marc Chagall oder Henri Matisse sind darunter. Oder zwei Grafiken von Pablo Picasso. Viele Kunstwerke galten als verschollen oder vernichtet.
Zweifel an der Echtheit der Werke gibt es bisher nicht, sagt die Expertin Meike Hoffmann nach ihren stichprobenartigen Prüfungen. Sie beschreibt ihre Gefühle so: „Wenn man vor den Werken steht, die lange verschollen waren, dann ist das ein unheimliches Glücksgefühl.“ Der Fund sei von „unheimlich großem wissenschaftlichen Wert“.
Das ist die eine Seite. Doch die heimliche Sammlung von Cornelius Gurlitt erregt die Gemüter weit über Deutschland hinaus. Vor allem geht es um die Frage, welche Stücke von den Nazis geraubt wurden und wem sie nun gehören. Und wie die deutschen Behörden mit dem sensiblen Thema der Rückgabe von Raubkunst umgehen. Einen Vorgeschmack auf solche Debatten gibt es in der Pressekonferenz. Viele Fragen zielen zum Beispiel darauf ab, warum der Fund erst jetzt bekannt gegeben wird. Chefermittler Nemetz antwortet in der ihm eigenen knorrigen und ironischen Art: „Wenn es nach uns gegangen wäre, wäre der Fund auch jetzt noch nicht öffentlich geworden.“
Er schiebt noch rasch eine juristische Erklärung für die Geheimhaltung nach: Die Ermittlungen und die Kunstwerke würden gefährdet. Seit Bekanntwerden der „wahnsinnigen Dimension“ hätten bereits die Sicherheitsvorkehrungen für die Bilder erhöht werden müssen. Wo der Kunstschatz lagert, bleibt daher auch ein Geheimnis. Jedenfalls liegt er nach Angaben des Zollfahnders Klöble nicht in einem Depot des Zolls in Garching bei München.
Vertreter der Erben jüdischer Kunstsammler kritisieren die Behörden scharf
Vertreter der Erben jüdischer Kunstsammler kritisieren die Behörden aber scharf. Schon die Geheimhaltung des Fundes verstoße gegen die Grundsätze der Washingtoner Konferenz, bei der sich 44 Staaten über den Umgang mit NS-Beutekunst verständigt hätten, sagt der von Erben des jüdischen Kunsthändlers Alfred Flechtheim beauftragte Rechtsanwalt Markus Stötzel. Wie der New Yorker Anwalt David Rowland und die Berliner Juristin Imke Gielen macht sich Stötzel dafür stark, den Inhalt der Sammlung komplett offenzulegen. Das ist nach Auskunft von Reinhard Nemetz vorerst nicht geplant. Wer aber glaube, einen Anspruch zu haben, könne sich jederzeit an die Augsburger Ermittler wenden. Das ist am Montag schon mehrfach geschehen.
Ein wenig nimmt den Vorwürfen der Geheimhaltung die Schärfe, dass deren Zeitraum bislang falsch verbreitet worden ist. Nach dem Focus-Bericht fand die Razzia in Gurlitts Münchner Wohnung im Frühjahr 2011 statt. Richtig ist nach Angaben der Ermittler vom Dienstag, dass das Appartement vom 28. Februar bis 2. März 2012 durchsucht und geräumt wurde, also ein Jahr später. Das Gemälde „Löwenbändiger“ von Max Beckmann ist also nicht nach, sondern vor der Wohnungsdurchsuchung beim Kölner Auktionshaus Lempertz abgegeben worden. Es wurde für 864 000 Euro versteigert.
Mit der Kontrolle im Schnellzug begann alles
Den Namen des Mannes, der jetzt allen bekannt ist, nimmt Augsburgs Chefankläger nicht in den Mund. Einige Details gibt er aber doch preis: Die Geschichte nahm ihren Anfang am 22. September 2010 gegen 21 Uhr abends im Schnellzug EC 197 von Zürich nach München. Zwischen Lindau und Kempten kontrollierten Zollfahnder den 79-jährigen Gurlitt und fanden bei ihm 9000 Euro. Erst ab 10 000 Euro aufwärts müssen Bargeldsummen angemeldet werden.
Dennoch machte der Betrag die Beamten stutzig. Oft genug unterbieten Täter ganz gezielt die 10 000-Euro-Marke. Die Fahnder starteten Vorermittlungen, die in ein offizielles Ermittlungsverfahren mündeten wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung und der Unterschlagung. Fast eineinhalb Jahre vergingen, bis ein Durchsuchungsbeschluss bei der Augsburger Ermittlungsrichterin erwirkt werden konnte. Am 28. Februar 2012 betraten Fahnder die Wohnung von Cornelius Gurlitt. Und machten einen Sensationsfund. Die Sammlung der wertvollen Kunstwerke war nach Angaben von Zoll-Direktor Klöble perfekt gesichert – nämlich gar nicht. „Geheimhaltung ist die beste Sicherung“, sagt Klöble.
Bilder waren fachgerecht hinter Vorhang gelagert
Hinter einem Vorhang waren die Bilder versteckt – entgegen früherer Angaben „fachgerecht gelagert und sehr gut erhalten“, sagt die Kunsthistorikerin Meike Hoffmann. 121 gerahmte und 1285 ungerahmte Werke seien es gewesen, berichtet Nemetz. Öl, Tusche, Bleistift, Aquarell, Lithografie, sonstige Drucke. Die Liste der Künstler ist höchst klangvoll: Max Liebermann, Max Beckmann, Otto Dix, Oskar Kokoschka, Henri de Toulouse-Lautrec, August Macke, Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner, Pablo Picasso, Carl Spitzweg, Albrecht Dürer, Marc Chagall, Pierre-Auguste Renoir, Karl Schmidt-Rottluff, Franz Marc, Karl Christian Ludwig Hofer, August Macke.
Doch dass der geheimnisvolle Herr Gurlitt noch unbekannte Meisterwerke und auch viele nicht aus der „entarteten Kunst“ stammende Bilder hortete, führt mitten in die vielen Probleme der Ermittler. „Die Ermittlungen sind in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht aufwändig, schwierig und dauern an“, sagt Nemetz.
Kann womöglich Gurlitts Vater die Bilder rechtmäßig gekauft haben, befanden sie sich also rechtmäßig im Erbe des Sohnes? Die Rechtslage muss für jedes Bild geklärt werden. Die Staatsanwaltschaft hofft darauf, einen Weg zu finden, die Beweislast umzudrehen. Dann müsste Gurlitt beweisen, dass es seine Bilder sind.
Momentan, und das ist wieder eine Überraschung, hat der merkwürdige Einzelgänger noch nicht einmal einen Anwalt genommen. Chefankläger Nemetz sagt: „Aktiv unternimmt er derzeit nichts, um die Bilder zurückzubekommen.“
Lesen Sie hier unseren Liveticker von der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft nach.
Die Diskussion ist geschlossen.