Blogger-Kongress re:publica: Die Lawine rollt ins Tal
Das Internet ist böse. Oder doch nur ein großes Missverständnis? Seit Mittwoch diskutieren Blogger, Journalisten und Netzaktivisten bei der re:publica in Berlin über das Web und seine gesellschaftlichen Folgen. Von Sascha Borowski
Wenn Peter Kruse in diesen Tagen Talkshows sieht, ärgert er sich in Grund und Boden. Das Internet als Ausgeburt von Gewalt und Kriminalität? Das Internet verdummt? Das Internet macht einsam? Wenn sich Menschen heute - nicht nur im Fernsehen - über das Internet streiten, geht es längst nicht mehr um die Fakten, sagt Kruse. Es geht um Werte. "Wir befinden uns mitten in einem Glaubenskrieg."
Kruse ist Psychologie-Professor in Bremen und beschäftigt sich seit mehreren Jahren intensiv mit der Entwicklung des sogenannten Web 2.0. Für ihn ist klar, dass der Siegeszug des Internets mit seinen Netzwerken, seinen Kampagnen und Strömungen längst nicht mehr aufzuhalten ist. "Die Lawine rollt bereits zu Tal", sagt Kruse am Mittwoch bei der re:publica in Berlin.
2500 Blogger, Journalisten und Netzaktivisten beschäftigen sich dort bei Deutschlands größtem Blogger-Kongress mit dem Internet und seine Folgen für Medien und Gesellschaft. Bei 165 Vorträgen und Workshops werden noch bis Freitag Sprecher aus 30 Ländern zu Wort kommen, darunter Blogger, Journalisten und Forscher.
Einer von ihnen ist eben Peter Kruse. Er versucht wissenschaftlich zu erforschen, was digitale Vernetzung mit den Menschen macht - und kommt bei seinem Vortrag auf der re:publica im Berliner Friedrichstadtpalast zu einem erschreckenden Schluss: Durch die Gesellschaft zieht sich längst ein tiefer Riss. Selbst die sogenannten Heavy-User, die Dauernutzer des Internets, spalten sich bereits in zwei unterschiedliche Gruppen. Digital Visitors und Digital Residents nennt Kruse sie.
Die Digital Visitors (übersetzt: die digitalen Besucher) gingen zwar routiniert mit dem Internet um, trennten das "reale" Leben aber doch ganz bewusst vom Netz. Anders die Digital Residents (digitalen Bewohner), bei denen virtuelles und reales Leben immer mehr verschmölzen. "Schon diese beiden Gruppen kommen zu völlig unterschiedlichen Bewertungen", hat Kruse herausgefunden. Auch das sei der Grund, warum Debatten über das Internet heutzutage oft so emotional und unversöhnlich geführt werden. "Transparenz auf der Werteebene würde den Diskurs durchaus befruchten", meint er.
Zumal das moderne Internet auch ein "Angriff auf die etablierten Regeln der Macht" sei. Heutzutage könne jeder publizieren - und das Publizierte von den Lesern weiterverbreitet werden. "So entsteht Aufschaukelung durch Resonanz. Jeder kann plötzlich in der Mitte der Gesellschaft landen und die Massenmedien kommen nicht mehr hinterher." Als Beispiele nannte Kruse etwa die Sänger, die durch Youtube-Videos binnen Tagen zu Weltstars werden. Er nannte aber auch die Fälle, in denen Unternehmen plötzlich ihren Ruf ruinieren, weil getragen vom Internet eine Welle der Empörung über sie hereinbricht. "Die Macht verschiebt sich vom Anbieter zum Nachfrager."
Aber wie nun umgehen damit? "Nur wer wirklich Teil dieses Netzwerkes ist, hat die Chance, diese Entwicklungen zu verstehen", ist Kruse überzeugt. Er rief dazu auf, sich mit dem Internet zu beschäftigen, sich zu vernetzen, selbst aktiv zu werden. Das gelte für Journalisten und Politiker wie für alle gesellschaftlichen Kräfte. Wobei es nicht tragisch sei, wenn sich Menschen der aktuellen Entwicklung verschlössen. Das komme irgendwann von selbst, lautete Kruses versöhnlicher Schluss: "Und bist du nicht willig, so brauch ich…Geduld".
Die re:publica in Berlin läuft noch bis Freitag und ist so gut wie ausverkauft. Einzelne Restkarten gibt es noch an der Tageskasse. Von Sascha Borowski
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