Das Erbe von Fukushima
Die Bewohner der radioaktiv verseuchten Region rund um Fukushima kämpfen mit den Ereignissen des vergangenen Jahres. Viele haben Angehörige verloren.
Dass mit seinen Birnen nichts mehr werden soll, kann Sadami Namie noch immer schwer begreifen. „Wenn man an den Bäumen ein Jahr lang nichts macht, braucht es natürlich eine Weile, bis sie wieder richtig in Schuss sind“, sagt der 82-Jährige. „Aber in ein, zwei Jahren bekämen wir das wieder hin.“ Der Gedanke an seine Obstplantage weckt Namies Lebensgeister. Als Erstes würde er die Äste nachschneiden, sagt er, und sich dann an das Unkraut machen. Nicht auszumalen, was jetzt zwischen den Bäumen alles wuchere. Und dann... Die Runde lacht. „Und dann?“, unterbricht einer der Männer Namies Redefluss. „Ich weiß es ja selbst“, gibt sich der alte Bauer geschlagen. „Wer will je wieder Birnen aus Fukushima essen?“
In dicken Jacken stehen die alten Herren an der Kreuzung der kleinen Containersiedlung, einer Notbehausung für Strahlenflüchtlinge aus der Region um das Unglücks-Atomkraftwerk Fukushima. Eigentlich hatte jeder etwas vor; der eine wollte einkaufen, ein anderer den Sozialarbeiter abpassen und Namie seine leeren Flaschen wegbringen. Doch ausgehend von der höflichen Frage, was es Neues gebe, war es nicht weit bis zu ihrem großen Thema: Werden sie je zurückkehren können in ihre Heimat, die sie vor einem Jahr Hals über Kopf verlassen mussten?
Das Unglück von Fukushima hat dem Land die Augen geöffnet
„Als wir hierherkamen, dachten wir, dass es nur für einige Monate sein würde“, sagt Namie, dessen Obstplantage zehn Kilometer vom Katastrophenreaktor entfernt liegt, tief in der Sperrzone. Wie die meisten habe er darauf vertraut, dass die Regierung und der Kraftwerksbetreiber Tepco der Situation gewachsen sein würden. „Heute wissen wir, dass das ein gewaltiger Irrtum war“, sagt er. „Wahrscheinlich wird es noch sehr lange dauern, bis wir wissen, wie es mit uns weitergeht.“
Wie sieht die Zukunft aus? Ein Jahr nach der Katastrophe vom 11. März 2011 stellen sich diese Frage nicht nur diejenigen, die unmittelbar Opfer des Dreifachdesasters aus Erdbeben, Tsunami und Nuklearkatastrophe geworden sind. Denn das Land kämpft nicht nur mit den Folgen gewaltiger Zerstörung, Tausenden menschlichen Tragödien und der radioaktiven Verstrahlung eines großen Landstrichs. Das Unglück hat Japan auch unbequeme Erkenntnisse über sich selbst aufgezwungen. Als die Welt schockiert verfolgte, wie sich das Ausmaß des Unglücks vor ihren Augen entfaltete, herrschte noch Zuversicht, dass Japan einer derartigen Herausforderung gewachsen sei – bis deutlich wurde, wie schlecht die Regierung und der mit ihr eng verbandelte Betreiber Tepco vorbereitet waren.
„Seit dem Unglück bezweifeln wir vieles, was unserem Land bisher Zusammenhalt gegeben hat“, sagt die Ökonomin Noriko Hama, eine von Japans führenden Intellektuellen. „Unser Glaube an unsere Technologie, die Effektivität unseres Staatswesens und unsere Fähigkeit, Naturkatastrophen zu bewältigen – all das ist erschüttert.“
Wie also soll es weitergehen? Die meisten Menschen scheinen vor dem Desaster ihre Augen zu verschließen und einfach weitermachen zu wollen wie bisher. Ein kollektiver Verdrängungsmechanismus, den die Japaner so gut beherrschen wie kaum ein anderes Volk. Doch für alle anderen, denen das Wegschauen nicht gelingt, ist Fukushima heute nicht nur eine nukleare, sondern auch eine nationale Katastrophe.
Nirgends ist die Verunsicherung stärker zu spüren als in Fukushima selbst. Einst war die Region bekannt für ihre heißen Quellen und ihr köstliches Obst. Noch heute hängen im Bahnhof der gleichnamigen Präfekturhauptstadt, die 50 Kilometer vom Unglückskraftwerk entfernt liegt, Werbungen für Thermalbäder und lokale Spezialitäten, als sei es nur eine Frage kurzer Zeit, bis hier wieder Touristengruppen aus dem Zug steigen. „Das ist typisch dafür, wie die Behörden die Probleme zu ignorieren versuchen“, sagt Nobuyuki Abe kopfschüttelnd. „Bis vor ein paar Monaten hat unsere Regierung ja auch noch behauptet, die Lebensmittel aus der Region seien sicher und könnten problemlos konsumiert werden.“
Der Mittvierziger steht hinter einem Tresen in einem von Fukushimas Einkaufszentren, vor sich eine Batterie Milchkartons, auf denen er in dicker schwarzer Schrift die Strahlenwerte vermerkt hat, die er darin gemessen hat. Alle seien unter den staatlich zugelassenen Höchstwerten, sagt Abe, aber man müsse den Behörden deutlich machen, dass man ihre Angaben überprüft. Und ob man deren Grenzwerte akzeptieren will, sollte sowieso am besten jeder selbst entscheiden.
Abe ist Mitbegründer der Initiative „Bürgerstation für Strahlenmessung“, eine von zahlreichen Anti-Atomkraft-Organisationen, die 2011 entstanden sind – quasi aus dem Nichts, denn vor der Katastrophe war Kernenergie in Japan kein Thema, das in der Öffentlichkeit für große Kontroversen sorgte. An dem Stand kann jeder kostenlos die Belastung seiner Lebensmittel messen oder sich selbst untersuchen lassen. Für umgerechnet fünf Euro bekommt man auch für drei Tage einen Geigerzähler ausgeliehen, um damit die Belastung des eigenen Grundstücks zu analysieren. „Unsere Stadt hat eine Menge Strahlung abbekommen“, sagt Abe. „Die Regierung und Tepco behaupten zwar, dass davon keine Gefahr ausgehe, aber wer will denen schon glauben?“
Früher hätte sich Abe nicht träumen lassen, dass er einmal in seiner Freizeit sozial und politisch aktiv werden würde. Ziviles Engagement hat in Japan keine große Tradition. „Ich war immer sicher, dass es kein schöneres, sichereres und besser funktionierendes Land gibt als Japan“, erzählt der Angestellte. „Aber jetzt fühle ich mich, als ob man mir mein Land gestohlen hätte.“
Einige Straßenzüge vom Einkaufszentrum entfernt hat die Initiative „Mütter für Fukushima“ Japans erstes Anti-AKW-Café eröffnet. Vorne sieht der Laden aus wie ein kleines Reformhaus. Zweimal pro Woche werden organische Lebensmittel geliefert, garantiert gesund und unverstrahlt. Hinten stehen einige Tischchen und ein Regal mit Büchern und Broschüren, der Tee ist umsonst. „Wir wollten einen Raum schaffen, wo Mütter über all ihre Sorgen sprechen können“, sagt Frau Toyama, die das Café zusammen mit zwei Freundinnen führt. In der Öffentlichkeit seien offene Worte schwer, denn bei der Mehrheit herrsche ein stiller Konsens, das unliebsame Thema nicht zu berühren.
Eine der großen Fragen, die in Toyamas Café diskutiert wird, ist, ob man überhaupt noch in Fukushima leben sollte. Zwar ist das havarierte Kraftwerk nach Angaben von Tepco seit Ende 2011 unter Kontrolle und die 300000-Einwohner-Stadt muss nicht mehr akut befürchten, dass es zu einer neuen Explosion und radioaktiven Wolke kommt. Doch welche Ausmaße die Verstrahlung von Grundwasser und Flüssen noch annehmen wird, ist bisher unklar, und auch eine sorgfältige Dekontamination der Stadt hat es bisher nicht gegeben.
Toyama mag den Versicherungen der Regierung, dass alles unter Kontrolle sei, nicht vertrauen, aber wie die meisten sieht sie keine andere Wahl, als sich zu arrangieren. „Die meisten von uns sind hier geboren und aufgewachsen und wüssten gar nicht, wo sie hinsollten“, sagt Toyama. „Außerdem ist der soziale Druck, hierzubleiben, sehr groß.“ Wer Fukushima den Rücken kehre, stehe in den Augen vieler Bekannter als Verräter da. Sie selbst habe mit ihrer Familie einen Umzug in den Süden des Landes erwogen, bis sich ihr 17-jähriger Sohn querstellte, erzählt sie. Klassenkameraden, deren Familien Fukushima verlassen wollten, würden auf dem Pausenhof geschnitten, klagte er und wollte nicht zu denen gehören, die auf einen Schlag all ihre Freunde verlieren.
Drei Tage direkt unter der Wolke
Obstbauer Namie, dessen Notunterkunft auf einem Parkplatz in Fukushima steht, hat seine Familie dagegen in den Süden geschickt, nachdem er feststellen musste, wie wenig er den Angaben der Regierung vertrauen konnte. Nach dem Beben sei er zunächst froh gewesen, dass sein eigenes Haus kaum beschädigt worden sei, erzählt der Strahlenflüchtling. Als sich später Nachrichten über eine mögliche Kernschmelze verbreiteten, habe sein Sohn die Familie überredet, zur Sicherheit zu Verwandten zu fahren, die 30 Kilometer entfernt wohnten. „Heute wissen wir, dass wir dort für die nächsten drei Tage direkt unter der radioaktiven Wolke waren“, sagt Namie. „Und wir wissen auch, dass die Regierung es die ganze Zeit wusste und trotzdem keine Warnungen ausgegeben hat.“
Um sich selbst mache er sich keine großen Sorgen, sagt er, wohl aber um seinen Sohn und seine Enkelin. „Dass ein Land, das die Atombombe erlebt hat, sein Volk noch einmal einer solchen Gefahr aussetzen würde, macht mich sprachlos.“ Um Geld zu sparen, hat er sich auf die von Tepco finanzierte Containerwohnung eingelassen. Doch seine Familie will er lieber in sicherer Entfernung wissen. Warum sollten sie auch zurückkommen? Die Birnen, von denen Familie Namie seit Generationen gelebt hat, wird wohl nie wieder jemand essen wollen.
Die Diskussion ist geschlossen.