Der bürgerliche Grüne wartet auf das Wunder
Winfried Kretschmann könnte der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands werden
Stuttgart „Ich glaube an die Wunder in der Politik“, ist einer der Lieblingssätze von Winfried Kretschmann. Er meint damit Ereignisse wie den Fall der Mauer 1989 oder die überraschende Möglichkeit, 2011 die CDU nach 57 Jahren an der Regierung im konservativen Baden-Württemberg abzulösen. Und der Spitzenkandidat der Grünen hat auch persönlich allen Grund für dieses Leitmotiv.
Weil er vielen, vor allem den Linken in seiner Partei, zu „realo“, zu männlich und zu alt war, zwangen ihm die Grünen im Juni 2010 für den Wahlkampf ein linkes Team auf. Kurz danach begann der Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 zu eskalieren, der die Ökopartei in Umfragen auf einen Rekordwert von 32 Prozent katapultierte. Der 62-jährige Winfried Kretschmann war plötzlich der Star und galt plötzlich zum Ministerpräsidenten mit dem Haudrauf-Image, Stefan Mappus, als wählbare bürgerliche Alternative: Kretschmann spricht ein langsames gepflegtes Schwäbisch, ist Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken und ebenso in einem Schützenverein, wo er es bis zum „König“ brachte. Nicht nur in seiner Partei gilt der verheiratete Vater dreier Kinder als wertkonservativ.
Kretschmann mahnte seine Grünen im Höhenflug um „Stuttgart 21“ auf dem Teppich zu bleiben, „auch wenn er fliegt“. Tatsächlich büßte die Partei in den Umfragen Punkt um Punkt ein – bis zu jenem Tag, als in Fukushima das Atomkraftwerk explodierte.
Die Vorstellung eines grünen Regierungschefs im schwarzen Südwesten ist plötzlich wieder real. Bis hin zur Frau im Spiegel ist Kretschmann ein gefragter Mann. Für die bunten Blätter hält er sich allerdings nicht geeignet. „Zur Politik gehört eine gewisse Nüchternheit“, pflegt er zu sagen. Der Chef der Grünen im Landtag ist gewiss kein Mitglied der Spaßfraktion. Von Show hält er nichts, in seinen Reden gerät der frühere Ethiklehrer gerne ins Prinzipielle. „Bei ihm ist Sein alles, und Schein lehnt er ab“, stellt ihn der Landtagsabgeordnete Jürgen Walter vor.
Humorfreie Zone sind die Auftritte des Wahlkämpfers Kretschmann dennoch nicht. Der Mitbegründer der Südwest-Grünen erntet etliche Lacher für seine Spitzen: „Wir sind jetzt 30 Jahre auf der Oppositionsbank gehockt – das belebt das Gehirn“, empfiehlt er der CDU einen Rollentausch.
Der Spitzenkandidat möchte jegliche Restzweifel beseitigen, ob die Grünen vielleicht nicht doch noch die Chaoten von früher sind. Er will möglichst keinen erschrecken. Besonnen, behutsam, schrittweise, verlässlich und berechenbar soll der Politikwechsel vonstattengehen, bemüht er beim politischen Frühstück in einer Kneipe in Schwäbisch Gmünd gleich eine ganze Latte von Sicherheits-Adjektiven. Der einstige Grundsatzreferent Joschka Fischers im hessischen Umweltministerium präsentiert sich als Wirtschaftsmann, der viel mit Unternehmern spricht und das Hohelied auf den Mittelstand singt.
Kretschmann erklärt, dass er neue Schulmodelle zulassen will, die Energiewende eine Chance für die hiesigen Betriebe sei, dass er eine „Politik des Gehörtwerdens“ anstrebt. Und der Oberschwabe beantwortet die klassischen Fragen: Der einstige Freund von Schwarz-Grün kann sich ein grün-rotes Duldungsmodell mit den Linken vorstellen. Und Stuttgart 21 wird gebaut, wenn das Projekt in der angestrebten Volksabstimmung eine Mehrheit bekommt.
Er sei kein Volkstribun für „Heckabeerlesfeschtle“ und gilt nicht unbedingt als Aktenfresser. Aber vielleicht zwingt ihn die durch das Atom-Drama in Japan veränderte Stimmung doch zum Alltagsgeschäft eines Ministerpräsidenten? Er bleibt betont ungerührt: „Umfragen nehme ich wie’s Wetter.“
Lesen Sie morgen Ulrich Goll im Porträt. Der Liberale zittert um die Zukunft seiner Partei im FDP-Stammland.
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