Vertreter der NSU-Opfer: "Riesiges Rassismusproblem"
Vor einem Jahr wurden die NSU-Morde aufgedeckt. Jetzt klagen Vertreter der Opfer und Migranten über die "Vertuschungsversuche" der Behörden und das deutsche "Rassismusproblem".
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, zeigte sich enttäuscht über die schleppende Aufklärung der Taten: "Es ist unglaublich, dass Vertuschungsversuche da sind und wir nicht wissen, was mit zerschredderten Akten passiert ist".
Die Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) jährt sich am Sonntag zum ersten Mal. Am 4. November 2011 hatten sich zwei der Mitglieder, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, nach einem Banküberfall das Leben genommen. Kurz darauf stellte sich die dritte Beteiligte, Beate Zschäpe, der Polizei. Das Trio wird für bundesweit neun Morde an Migranten zwischen 2000 und 2006 verantwortlich gemacht sowie den Mord an einer Polizistin 2007 in Heilbronn. Zudem soll es zwei Bombenanschläge in Köln verübt haben.
Die Politik wolle das Rassismusproblem nicht wahrhaben
Die Politik wolle nicht wahrhaben, dass es "ein riesiges Rassismusproblem" gebe in Deutschland, kritisierte Kolat in einer Pressekonferenz zum Jahrestag. Er forderte eine Debatte darüber, wie es zu den Morden kommen konnte. Kolat lobte zugleich die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Diese werde allerdings konterkariert, indem Unterlagen nicht eingereicht, vorsortiert oder gar geschreddert würden.
Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) kritisierte auf der Pressekonferenz, offenkundig habe sich in den zuständigen Ermittlungsbehörden niemand vorstellen wollen, "dass wir einen mörderischen und klaren Zielen verpflichteten Rechtsterrorismus in Deutschland haben könnten". Die Sicherheitsbehörden hatten den rechtsextremen Hintergrund der Morde jahrelang nicht erkannt und stattdessen in Migrantenkreisen nach möglichen Tätern gefahndet.
Edathy forderte mit Blick auf den Umgang mit Zuwanderern mehr Sensibilität in den Behörden. Diese müssten künftig Personal rekrutieren, das in der Lage sei, "ohne Denken in Stereotypen" zu ermitteln.
Angehöriger der Opfer kritisieren deutsche Politiker
Auch die Hinterbliebenen der Opfer zeigten sich zum Jahrestag verärgert über das Verhalten der Behörden und Politiker. „Uns wurde sehr viel versprochen, auch von Bundeskanzlerin Merkel. Dann haben wir gehört, dass Akten vernichtet wurden, und wir haben das Gefühl, die Aufklärung kommt nicht voran", sagte Gamze Kubasik, Tochter des am 4. Juni 2006 in Dortmund erschossenen Mehmet Kubasik, dem Tagesspiegel.
Die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Barbara John (SPD), kritisierte das "Eigenleben" der Ermittlungsbehörden. Versprechen der Bundesregierung, alles zur Aufklärung zu unternehmen, interessierten dort nicht. "Es müsste eigentlich der Politik auffallen, dass sie gar nicht die Zügel in der Hand hält." John brachte die Gründung einer Stiftung ins Gespräch, um die Ereignisse zu dokumentieren. Das Gedenken an diesen "Einschnitt" in der deutschen Geschichte dürfe nicht mit Untersuchungsausschüssen, Gedenkfeiern und Gedenktafeln beendet sein.
Justizministerin: "Eine Schande für unseren Rechtstaat"
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) forderte in der Passauer Neuen Presse eine Reparatur der Sicherheitsarchitektur, "um das Vertrauen wiederherzustellen". Der NSU sei eine "Schande für unseren Rechtstaat". Zugleich warnte sie vor rechtsextrem motivierter Gewalt, die sich radikalisieren könne: "Der Rechtsextremismus spannt Netzwerke bis in die Mitte der Gesellschaft auf."
Zum Jahrestag der NSU-Aufdeckung rief das Bündnis gegen das Schweigen für Sonntag in fast 30 Städten zu Solidaritätskundgebungen für die Opfer auf. Es gehe auch darum, auf fehlende Sensibilität der Gesellschaft gegenüber dem Rassismus aufmerksam zu machen, erklärte dessen Sprecher Michael Gräfe in Berlin. AZ/afp
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