
Job weg wegen Corona: "Ich habe mich nutzlos gefühlt"

Viele Menschen wurden durch die Krise arbeitslos. Zwei Augsburger schildern ihre frustrierenden Erlebnisse. Ist Ihnen Ähnliches widerfahren? Gerne würden wir Ihre Geschichte hören.
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Florian Kastner* und Waltraud Balder* haben in den vergangenen Monaten viel verloren: ihre Jobs, ihre Kollegen und auch Geld. Kastner hat sich inzwischen gefangen und sagt heute Sätze wie: "Ich hatte ein wahnsinniges Glück während Corona." Der 31-Jährige lächelt und nimmt einen Schluck Latte Macchiato mit Hafermilch in einem Café in der Maximilianstraße.
Glück – da hat die arbeitslose Kassiererin Waltraud Balder andere Erfahrungen gemacht. Sie beschreibt ihren aktuellen Gefühlszustand mit einem Satz, der so beginnt: "Ich bin in ein …" Dann hält sie inne und schaut über ihre Schultern nach links und rechts. Es hat den Anschein, als ob sie sichergehen will, dass sie niemand in dem Café hören kann. Um die Wahrheit nicht aussprechen zu müssen, formt Balder mit beiden Daumen und Zeigefingern ein Loch. Für einen kurzen Augenblick schaut sie hinein. Balder will mit dieser Geste zeigen: Sie ist in ein Loch gefallen.
Jobverlust durch Corona: Frauen und junge Menschen häufiger betroffen
Geschichten wie die von Balder und Kastner verbergen sich hinter den Monat für Monat veröffentlichten Zahlen zur Arbeitslosigkeit. Beide wollen an dieser Stelle nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden, Jobverlust ist noch immer ein Thema, das mit Scham besetzt ist. Offiziell gezählt wurden für die Monate März bis Juli 2305 Menschen, die sich in Augsburg arbeitslos gemeldet haben. Nicht alle Augsburger sind in gleichem Maße von der Krise betroffen: Die Pandemie trifft vor allem diejenigen hart, die vorher schon wenig hatten und in der Arbeitswelt kämpfen mussten. Frauen und junge Menschen sind ersten Studien zufolge härter von der Krise betroffen als andere.
Das liegt daran, dass angeschlagene Branchen wie der Einzelhandel und das Gastgewerbe häufiger Frauen beschäftigen. Und auch Student Kastner zählt zu einer Risikogruppe in der Corona-Arbeitswelt. Er ist Nebenjobber in einem Club und freiberuflich in der Erwachsenenbildung tätig. In die Statistik des Arbeitsamtes geht Kastner nicht ein, er ist offiziell Student, kein Arbeitsloser. Das Problem des Jobverlusts wird unterschätzt. Wie haben Kastner und Balder die Krise erlebt?
Vor Corona standen die beiden Augsburger sicher im Berufsleben
Vor vier Monaten im April: Der Student und die Kassiererin standen noch mitten im Berufsleben, als sich die Pandemie auch hier ausbreitete. Von einem Tag auf den anderen war Kastner, breite Schultern, Schirmmütze, Bart, seine Jobs los. Er finanzierte sein Leben und zur Hälfte das seines Sohnes, indem er seit drei Jahren Bierfässer durch einen Club schleppte. Außerdem gab er Nachhilfe und jobbte als Lehrer in einem Fortbildungszentrum. Statt sich auf sein Studium zu konzentrieren, muss er nun Geld verdienen. Auch für seinen sechsjährigen Sohn.
Kastner ist keiner der Studenten, die Monat für Monat Geld von ihren Eltern überwiesen bekommen. Der Lehramtsstudent, der eine Bankkaufmannslehre absolvierte, antwortet auf die Frage, was ihm wichtig sei: "Finanzielle Unabhängigkeit." Fast hätte er sie durch Corona verloren, seine Unabhängigkeit.
Was zunächst wegfiel, waren die Kollegen im Club, die zweite Familie, wie Kastner sagt. Als Corona kam, wurde einer nach dem anderen entlassen. Dann brachen Kastner auch noch seine Jobs als freiberuflicher Lehrer weg. Was blieb, war die Verantwortung für seinen Sohn, der ständig aus seinen Klamotten herauswachse. Kastner sagt: "Diese kleinen Schuhe sind so teuer." Was ebenfalls blieb, war der Druck im Studium. "Ich stand vier Tage vor der wichtigsten Klausur meines Lebens." Am Abend vor seinem Examen stand fest: Der Stress ist zu groß. Kastner war von seiner neuen Lebenssituation übermannt, für seinen Arzt war die Sache klar – er bescheinigte Prüfungsunfähigkeit.
Balder ging zu Beginn der Krise in Kurzarbeit: Ich habe meine "Mädels" vermisst
Am Anfang der Krise ging die Kassiererin Balder in Kurzarbeit, von ihrem Gehalt blieben 60 Prozent übrig. "Ich dachte, ich würde nach der Krise weiterarbeiten", sagt sie, und schließt an: "Mir haben meine Mädels da schon gefehlt." Mädels, so nennt Balder ihre ehemaligen Kolleginnen, bei Balder fällt das Wort "Familie", wenn sie länger über die Frauen von ihrer Arbeitsstelle spricht.
Die Geschichte von Balders Abstieg begann vor einigen Monaten mit einem Brief. Vor Corona hatte sich die 52-Jährige an der Kasse einen Fehler geleistet. Sie hatte sich vertippt. Die Kassen waren neu, erzählt Balder, und eine Bestellung sei nicht korrekt abgesendet worden. Sie rief bei ihrem Chef an, entschuldigte sich, die Angelegenheit schien abgehakt. Dann, als die Geschäfte schließen mussten, bekam sie Post. Der Absender – ihr Arbeitgeber. In dem Schreiben wurde sie für ihren Bestellfehler abgemahnt und schon einige Wochen später war wieder Post auf dem Weg zu Balder.
Zum Interview in der Bäckerei-Filiale ist sie nicht alleine erschienen. Ihre erwachsene Tochter sitzt ihr gegenüber und leistet Unterstützung. Sie tut das, indem sie viel nickt, indem sie ihre Mutter darin bestärkt, frei über das Erlebte zu sprechen. Über ihre Mutter sagt die Tochter: "Sie hat immer geschuftet, sie ist ein Arbeitstier."
Kurz nach der Abmahnung kam die Kündigung
Einige Wochen nach der Abmahnung bekam sie den zweiten Brief. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass sie betriebsbedingt gekündigt sei. Für Balder ein Schock. Sie hatte ihren festen Arbeitsvertrag erst vor der Pandemie unterschrieben. Davor habe sie sich von einem Vertrag zum nächsten gehangelt. Etwas mehr als zwei Jahre hat sie in dem Betrieb gearbeitet. Einmal noch kehrte sie in das Geschäft zurück, leerte ihren Spind und verabschiedete sich von ihren "Mädels".
Mit ihrem Vorgesetzten gab es kein klärendes Gespräch, sagt Balder, sie habe keine richtige Antwort auf die Frage erhalten: Warum? Balder sucht nun selbst nach Antworten für ihre plötzliche Kündigung. "Die haben Kosten reduziert", erklärt sie ihre Situation. "Die haben die anderen Mitarbeiter an der Kasse angelernt." Balder sagt: "Und ich bin auf einmal nutzlos geworden."
Noch immer wartet Balder auf ihr Arbeitszeugnis, die Bescheinigung für das Arbeitsamt ist erst letzte Woche eingetroffen, fast zwei Monate nach ihrer Kündigung. Balder hat eine kleine Abfindung erhalten.
Kastner konnte sich seine Unabhängigkeit bewahren
Bevor Kastner an der Maximilianstraße im Café sitzt, spaziert er durch Augsburgs Gassen. Er hat Feierabend gemacht. Sein neuer Arbeitsplatz liegt in einem modernen Bürogebäude nur wenige Schritte von der Ulrichskirche entfernt. Kastner erzählt, dass er nach seiner Krankschreibung einfach nur raus wollte, das Risiko verringern, dass ihm zu Hause alles zu schwer werde. Er lud sich eine Dating-App herunter.
Dann das "Match", das alles veränderte. Ein erstes Treffen mit einer Frau am Kuhsee, nach weiteren Dates der erste Kuss. Kastner verliebte sich. Und die Frau verliebte sich in Kastner. Schnell wurden die beiden ein Paar und seine Freundin kurz darauf seine Chefin. In ihrem Unternehmen suchten sie noch jemanden, erzählt er. Er wurde eingestellt. Er sagt: "Ich hatte so ein Glück." Heute arbeitet er in einem Callcenter in der Immobilienbranche. Er arbeitet dort in Teilzeit und verdient so viel, wie er und sein Sohn zum Leben brauchen.
Zwei Geschichten aus der Corona-Zeit: Kastners Studienabschluss wird sich um ein Jahr verzögern. Dass er sich seine Unabhängigkeit bewahren konnte, verdankte er dem Zufall. Die Kassiererin Balder ist nun wieder auf Jobsuche – mit dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden.
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