Wie klingt der Frieden? Feierlich wie Pauken, Hörner, Streicher, Gesang. Die Lange Kunstnacht in Augsburg beginnt in diesem Jahr mit einem kräftigen Friedensgebet, das durch das Kirchenschiff von St. Anna hallt. „Amen!“, singt der Chor der Musica Suevica, „Friedensschöpfer, Erbarmer ist der Herr.“ Diese Festmusik hat einst Friedrich Hartmann Graf komponiert, er schrieb sie 1792. Graf war Musikdirektor, Kantor bei St. Anna und persönlich mit Wolfgang Amadeus Mozart gut bekannt. Dass heute sein Werk wieder klingt, hat Gründe: Er schuf die Kantate damals für das Augsburger Friedensfest – und um die Tradition der Friedensstadt dreht sich in diesem Jahr, 2025, wieder das Kulturleben in Augsburg. Anlässe gibt es genug: 375 Jahre Friedensfest. Vor 30 Jahren endete der Balkankrieg. Vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg. Doch in der Gegenwart fühlt sich der Krieg für viele Menschen wieder nah und bedrohlich an. Und so steht die Lange Kunstnacht 2025 unter dem Motto „Frieden gestalten“.
Gestalten werden die Nacht vor allem wieder Künstlerinnen und Künstler aus Augsburg, wie beim Auftakt in St. Anna: die Sängerinnen und Sänger der Musica Suevica, die schwäbische Musikgeschichte pflegen, dazu der Bass Maximilian Lika, die Sopranistin Alexandra Steiner, glänzendes Heimspiel. Aber das dicke Festprogramm ist auch bepackt mit Jazz, Pop, Tanz, Installations- und Straßenkunst, Führungen, Vorträgen. Mehr als 200 Veranstaltungen an gut 50 Spielorten. Heute lässt sich in Augsburg erleben, „wie man über Frieden spricht, über ihn singt oder ihn vertanzt“, sagt Oberbürgermeisterin Eva Weber in ihrem Grußwort. Ihre Empfehlung: Sich durch die nächsten Stunden treiben zu lassen, „durch die Nacht zu floaten“. Ein Streifzug.
Auf den „Sonic Bikes“ durch die Lange Kunstnacht in Augsburg
Warum nicht einfach auf dem Rathausplatz in die Lange Kunstnacht starten? Dort warten Fahrräder mit Musikboxen anstelle von Gepäckträgern darauf, durch die Innenstadt gefahren zu werden. „Sonic Bikes“ heißen sie. Die schottische Soundkünstlerin Kaffe Matthews ist in den vergangenen Monaten durch Augsburg getourt, um hier und da die Geräuschkulisse aufzuzeichnen. Und ebendiese geben die Musikboxen auf dem Drahtesel wieder, je nachdem, wo man gerade entlangradelt. Wie das klingt? Auf der Maximiliansstraße nach Meeresrauschen – oder die Box hat einen Wackelkontakt. Auf dem Ulrichsplatz stimmt eine Frauenstimme „Amazing Grace” an. Ausgerechnet die Konrad-Adenauer-Allee klingt nach New Wave. Hinter dem Diözesanmuseum tönt plötzlich Irish Folk und das Fahrrad rattert über das Pflaster. All das mischt sich mit den aufgedrehten Musikanlagen aus geleasten Audis, der Musik in Bars und dem Stimmengewirr auf den Plätzen zum lauten, sommerlichen Samstagabend-Sound.
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Zwischen einem Kunststoff-Krokodil, einem Braunbären und allerhand weiterer ausgestopfter Tiere kommen noch am frühen Abend Freunde gelebter Literatur im Naturmuseum in der Ludwigstraße auf ihre Kosten. Begleitet vom Perkussionisten Eric Zwang-Eriksson erzählt Ute Kürzinger vom im Kulturhaus Abraxas angesiedelten Märchenzelt zwei Geschichten. Die erste handelt von einem Krieg im Tierreich, den ein Wolf gegen einen Käfer anzettelt, die zweite von zwei Freunden im fernen Kasachstan, die um einen Topf voll Gold streiten, den der eine vergraben im Feld des anderen findet. Ganz im Kontrast zur restlichen, sommerlich aufgeheizten Stadt, gibt das dunkle Museum für Kürzingers düstere Kurzgeschichten die passende Kulisse und obendrein Gelegenheit zur Abkühlung.

Im Schaezlerpalais klingen in dieser Kunstnach Kriegsgeräusche
Seit Jahrhunderten ziehen Aşiks, anatolische Troubadoure, durch die Weiten der heutigen Türkei, um zu den Klängen der Saz vom Leben zu erzählen. Aylin‘s Soulgarden übersetzen diese Tradition ins Heute und zeigen, dass sich Brauchtum und Moderne gut vertragen können. Aus Eren Yildirims Tenbûr sprudeln Lautentöne, lebendig wie ein Gebirgsbach, die Aylin Yildirims nach dunklem Soul klingende Stimme umtanzen. Synthies, Bass und Drums atmen britischen Trip-Hop, maghrebinischen Psychedelic-Rock und den charakteristischen Indiepop-Sound aus dem Offshore-Studio von Girisha Fernando. Spätestens als sich ein traditionelles, kurdisches Liebeslied in eine funkensprühende Funknummer verwandelt, wird deutlich, dass man Texte nicht verstehen muss, um das Wesen der Musik als universelles Kommunikationsmittel zu erkennen, das im wahrsten Sinne des Wortes keine Grenzen kennt.
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Im Schaezlerpalais klingen Kriegsgeräusche. Hinter einem dicken Vorhang, in einem abgedunkelten Raum des Museums, läuft ein Video auf der Leinwand: Halyna aus der Ukraine stellt sich vor. Aus Saporischschja sei sie gekommen, im Jahr 2023, erzählt die Frau. Und jetzt sitzt sie hier am Straßenrand in Berlin am Flughafen Tegel. Halyna ist eine von vielen Ukrainern auf der Flucht, die in diesem Film die Hauptrolle spielen. Sie geben im Video eine Anleitung – für ein Karaoke der Kriegsgeräusche. Nur mit ihren Stimmen ahmen diese Menschen das Rauschen, Krachen, Kreischen nach, das sie in der Erinnerung verfolgt. Sturmgewehrfeuer, Artilleriebeschuss, Sirene, aber vom Stimmband. „Helikopter“, sagt Halyna und brummt: „TRRRRRRRRRRRRRRR VSHCHIUKH, VSHCHIUKH, VSHCHIUKH ...“, Rotorenrattern ohne Atempause. Dann, als sie nach dem letzten Ton tief seufzen muss, und ihr Blick seufzt mit, fordert sie die Zuschauer direkt auf: „Repeat after me“. Und jetzt Sie! Wiederholen Sie mit mir! Im Raum stehen tatsächlich vier Mikrofone. Der Untertiteltext zum Geräusch läuft mit, wie fürs Mitsingen in der Karaokebar – aber ... darf man? Soll man?
„Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Wer hier mitmacht und wiederholt, zeigt Solidarität. Aber auch nicht mitzumachen, kann ein Zeichen von Solidarität sein“, sagt Yuriy Biley. Der ukrainischen Künstler hat mit seinem Kollektiv Open Group diese Menschen gefilmt. 2022 brach der Krieg in ihr Land und die Künstler begannen, die Stimmen zu sammeln. Inna aus Saporischschja hat Zuflucht in Wien gefunden und imitiert einen Luftalarm, mit angekratzter Stimme, klarem Blick und Ausdauer: „WEEEEEEEEEEEEEEEEEEeeeeh“. Biley sagt, der Film sei eine Einladung zum Mitgefühl, aber auch eine Anleitung zum Schutz, um Warnsignale zu erkennen. Auf Tischen liegen Infoprospekte: Was tun, wenn Bomben fallen? „Aber natürlich hoffen wir Ukrainer für Menschen in anderen Ländern, dass sie dieses Wissen nie brauchen werden.“
Die Lange Kunstnacht in Augsburg folgt einer Spur aus Sand
Lubna Alabdallah erzählt im Grandhotel Cosmopolis aus unmittelbarer Perspektive die Geschichte der sudanesischen Revolution 2019, die zum Sturz des 30 Jahre herrschenden Omar al-Bashir führte. Es ist die Perspektive einer Person, die dabei gewesen ist, als die Schergen Bashirs ihre eigenen Leute niederschossen, als die Menschen in Khartoum die Zentrale des sudanesischen Militärs besetzten, als der übergangsweise eingerichtete Militärrat das Massaker des 3. Juni verübte. Wut und Euphorie, Verzweiflung und Hoffnung, ungezügelte Freude und tiefe Trauer kommen in der Musik zum Tragen, die Alabdallah zwischen ihre eindrucksvolle Erzählungen einstreut. Sie versinkt jedes Mal für ein paar kurze Minuten in den Klängen und es ist ihrer Mimik und ihren Bewegungen anzumerken, wie tief sich das Erlebte in ihre Erinnerung gefräst hat. Und wie die Musik das Gefühl am Leben hält.
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Aus vier quer durch das im Dunklen liegende Schiff der Moritzkirche gespannten Infusionsschläuchen fallen vereinzelt Wassertropfen in hohe Glasgefäße. Sie beeinflussen die modularen Synthies von Jürgen Branz, die sanfte Drones und hallendes Pluckern schöpfen. Und sie beeinflussen Tristan Hutschkes hypnotisierende Projektionen, die an zerbrochene Regenbögen oder die Familienfeier einer Amöben-Kolonie erinnern. Mit jeder Minute der Deep Drips-Installation verselbstständigen sich die Gedanken mehr, plötzlich sehen die Mikrofone an den Wasserbehältern aus wie humanoide Giraffen, die ratlos in ein gläsernes Wasserloch starren; die Christusfigur am Ende des Altarraums scheint im bunten Schein der Visuals vor ihrem eigenen Schatten davonzulaufen. Surrealer wird es nur, als man um Mitternacht wieder in die immer noch vor Leben brummende Wirklichkeit stolpert.
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Über das Pflaster der Philippine Welser Gasse schlängelt sich eine Spur aus Sand. Passanten stutzten. Sie bleiben stehen, sie verfolgen die dünne Schlangenlinie am Boden und lesen die Fährte. Denn diese Linie ist tatsächlich geschrieben. Aus Buchstaben, Wörtern, Sätzen. „Von der Zeit war die Rede und immer wieder von Krieg ...“, so beginnt die Textspur aus Sand. Gezogen hat sie der Niederländer Gijs van Bon mit seiner „Skryf“-Maschine, wie eine Linie auf dem Fußballfeld, nur eben nicht mit Kreide, sondern Sand. Als Mahnung zum Frieden. Van Bon schreibt mit den Körnchen ein Gedicht der kroatischen Autorin Dragica Rajčić: „Von Menschen war die Rede und von Kindern, die nicht mehr da sind.“ Manche Fußgänger folgen den Worten mit gesenktem Kopf, andere nehmen keine Notiz vom Text unter ihren Füßen. Flipflops und Turnschuhe streifen den Sand, bis er verwirbelt. Buchstaben bröckeln, als ginge der Schreibmaschine die Farbe aus. Der Künstler sagt: „Der Mensch, die Natur und der Lauf der Zeit sind dafür verantwortlich, dass sich das Wort wieder auflöst. Manchmal sehr schnell, manchmal sehr langsam. Wie Sand durch die Finger.“ In der Augsburger Gasse verliert sich die Spur der Worte, aber auch die des Krieges.
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