Wenn der Regen kommt, kommen die Erinnerungen. Manchmal schlafe sie noch immer schlecht, sagt Kathrin Bablok, manchmal schrecke sie auf, etwa wenn sie ein Gewitter in der Ferne grollen hört. Neulich stürmte sie mitten in der Nacht in den Keller und prüfte, ob auch alles dicht ist. „Ich gehe dann gedanklich alles durch: Was muss weggeräumt werden? Wohin? Wie viel Zeit haben wir, bis das Wasser kommt?“ Der Tag, als das Hochwasser die Häuser überflutete, Anfang Juni 2024, hat das Leben im kleinen Dorf Zusum mit seinen 60 Bewohnern verändert. Wobei: Eingegraben haben sich die Ereignisse in die Köpfe. Einige hier haben aufgegeben, andere mit seelischen Problemen und staatlicher Bürokratie zu kämpfen.
Die Babloks sind geblieben. Sie leben mit den Eltern auf einem ehemaligen Bauernhof mitten in Zusum, dem kleinsten Stadtteil Donauwörths. Die Stadt selbst liegt auf der anderen Seite der Donau. Das muss man wissen, es spielt hinsichtlich der im Dorf empfundenen Ungerechtigkeit eine tragende Rolle. Kathrin Babloks Mann Timo ist seit Jahren Kommandant der kleinen Feuerwehr. Der 42-Jährige sagt, die Wehr sei so etwas wie der soziale Kitt in Zusum. Und am Feuerwehrhaus erkenne man, was schieflaufe.

Von außen wirken sowohl das kleine Gerätehaus als auch die Häuser intakt. Bei Sonnenschein gleicht Zusum einem nordschwäbischen Bullerbü – alte Bauernhöfe, eine Kapelle, rundherum Felder. Kurz vor dem Anwesen der Babloks aber findet sich eine Baugrube. Das Haus, das hier stand, wurde vor Kurzem abgerissen. Das Hochwasser und ausgelaufenes Heizöl hatten es so in Mitleidenschaft gezogen, dass wohl nichts mehr zu retten war. Einige Meter weiter steht ein Zwei-Parteien-Haus leer. Durch Öl kontaminierte Wände machten das Leben gefährlich. Das Paar, das hier wohnte, lebt jetzt in einer Wohnung in Donauwörth. Ihre Altersvorsorge: dahin. Auch am und im Feuerwehrhaus lassen sich bei genauerem Hinsehen tiefe Risse feststellen.
Das Hochwasser vor einem Jahr hat vielen Orten in der Region zugesetzt. Als Anfang Juni Bäche zu reißenden Flüssen anschwollen, liefen Häuser voll, Autos versanken im Wasser, mancherorts wurden Existenzen weggespült. In Bayern und Baden-Württemberg hat die Flut mehr als 4,1 Milliarden Euro Schaden angerichtet. Die Bayerische Staatsregierung stellte einen Hilfsfonds in Höhe von 200 Millionen Euro bereit. Mehr als 60 Millionen wurden bislang ausgezahlt. Für die Kartei der Not, das Leserhilfswerk unserer Zeitung, war es die größte Hilfsaktion ihrer Geschichte. In den zwei Monaten nach der Flut leitete sie weit mehr als drei Millionen Euro an Betroffene weiter. Im Freistaat kamen mindestens vier Menschen ums Leben. Bis heute wird Denis Root trotz monatelanger Suchaktionen vermisst – jener 22-jährige Feuerwehrmann, der in Offingen (Kreis Günzburg) mit einem Boot kenterte.
Die Zusumer, die geblieben sind, sanieren in der Unsicherheit, dass das Wasser jederzeit wieder kommen könnte
Im kleinen Zusum, das genau zwischen Donau und dem Flüsschen Zusam liegt, traten beide Flüsse über die Ufer. Bei den Babloks schoss Flusswasser in den Keller, Grundwasser drückte von außen an die Wände und von unten auf die Bodenplatte. Laut Gutachten beträgt der Schaden 116.000 Euro. Eine Versicherung, sagt Timo Bablok, hätten sie seinerzeit nicht abschließen können, das wäre kaum tragbar gewesen. Zusum galt auch früher als hochwassergefährdet, obwohl es laut Anwohnern nie nennenswert in Mitleidenschaft gezogen worden war. Und die Menschen haben ein weiteres Problem: den fehlenden Hochwasserschutz. „Wir richten jetzt hier unsere Häuser wieder her, verschulden uns – und die öffentliche Hand, der Staat, sorgt nicht für den Schutz des Dorfes“, sagt Bablok. Die, die geblieben sind und bleiben wollen, sanieren in der Unsicherheit, dass das Wasser jederzeit wieder kommen könnte.
Zumindest um den alten Ringdeich hätte sich der Freistaat Bayern kümmern müssen, sagt Bablok. Doch der Deich sei heruntergekommen, lückenhaft, im Höhenniveau abgesackt. „Wir fordern, dass der Deich um das Dorf auf HQ100-Niveau ausgebaut wird“, betont Bablok. HQ100 bedeutet: ein im Schnitt alle 100 Jahre wiederkehrendes Hochwasser. Das allerdings ist ein statistischer Wert, Theorie. Ein Hochwasser wie 2024 könnte auch Jahr für Jahr wiederkommen.
In Dinkelscherben und Zusmarshausen folgte auf die Flut die Wut
70 Kilometer weiter südlich, die Zusam flussaufwärts, sieht man, was eine Flutkatastrophe in Gang setzen kann. Siefenwang, jener Weiler bei Dinkelscherben im Kreis Augsburg, wurde zum Symbol für das Versagen bayerischer Politik und Behörden beim Hochwasserschutz. Schließlich gab es dort seit Anfang des Jahrtausends Überlegungen für ein Rückhaltebecken, einen genehmigten Plan seit 2013. Doch es folgten Klagen, der Grunderwerb kam nicht voran. Als die Zusam vor einem Jahr über die Ufer trat, waren Hunderte Bewohner von Dinkelscherben und Zusmarshausen schutzlos. Auf die Flut folgte die Wut. Der Landrat schimpfte, Bürgermeister protestierten, empörte Anlieger forderten mit 3600 Unterschriften, dass der Freistaat endlich in die Gänge kommt, örtliche Abgeordnete machten Druck. Danach ging es auf einmal schnell.

Im März war Spatenstich für das rund 9,5 Millionen Euro teure Bauwerk. Umweltminister Thorsten Glauber räumte ein: „Wenn man 2013 die Baugenehmigung für ein Hochwasserrückhaltebecken hat und 2025 ist dann erst Spatenstich, da fragt man sich schon.“ Der Freie-Wähler-Minister hatte unter dem Eindruck der Flut im Sommer angekündigt, dass künftig Enteignungen für Zwecke des Hochwasserschutzes leichter möglich sein sollen. Bislang blieb es beim Versprechen. Die Änderung des Wassergesetzes gilt als einigermaßen komplexe Operation, in diesem Jahr aber will Glauber einen Entwurf vorlegen. Das Beispiel zeigt: Schnell geht beim Hochwasserschutz selten etwas, weil stets viele Interessen berührt sind. Von einer „gesamtgesellschaftlichen Daueraufgabe“ spricht der Minister daher.
Finanziell hat der Freistaat schnell nachgebessert. Zu den eingeplanten 280 Millionen Euro für den staatlichen Wasserbau kamen 40 Millionen Euro dazu. Im Nachtragshaushalt stellte die Staatsregierung weitere 40 Millionen bereit, um langfristige Projekte abzusichern.
Rund vier Milliarden Euro hat Bayern seit 2001 in den Hochwasserschutz gesteckt. Über 190 Kilometer Deiche und 70 Kilometer Schutzwände wurden unter anderem neu gebaut. Besonders umstritten ist eine Kette von Flutpoldern entlang der Donau, von denen nur der bei Riedensheim (Kreis Neuburg-Schrobenhausen) einsatzbereit ist. Beim Hochwasser aber wurde er nicht aktiviert, da die größte Gefahr von kleinen Flüssen ausging.

Der Grünen-Landtagsabgeordnete Max Deisenhofer kritisiert, das Schutzkonzept der Staatsregierung verlasse sich zu sehr auf Großprojekte. Man müsse mehr auf ökologischen Hochwasserschutz setzen, damit das Wasser in der Fläche versickern und in Mulden stehen bleiben kann. Zudem sagt er: „Das Bauen in Überschwemmungsgebieten muss aufhören.“ Im Umweltministerium heißt es, man setze auf ein ganzheitliches Konzept, das auch Schutzvorkehrungen in der Fläche vorsehe. Genau das werde im Zeichen des Klimawandels und vermehrter sintflutartiger Regenfälle wichtiger.
Rund um Siefenwang wusste man schon vor dem Hochwasser um die Gefahr – geholfen hat es nichts. Jetzt fressen die Baumaschinen eine breite Schneise ins fruchtbare Land, große Befestigungssteine türmen sich auf der Baustelle. Ende 2026 soll das Becken fertig sein. Auf einer Fläche von fast 200 Fußballfeldern würde das Wasser im Ernstfall bis zu zwei Meter hoch stehen.
Andere Orte stehen weiter oben auf der Liste des Wasserwirtschaftsamtes als Zusum
In Zusum klammern sich die Menschen derweil an jede Nachricht, dass sich etwas tun könnte an den Deichen. Jüngst, sagt Bablok, habe das Wasserwirtschaftsamt Donauwörth in Aussicht gestellt, dass die Senken am Deich wieder verfüllt werden könnten. Aber er mag nicht wirklich daran glauben, dass rasch etwas geschieht. „Ein Jahr lang ist praktisch nichts passiert für unseren Schutz.“ Die Zusumer haben immer wieder angemahnt, dass schnell gebaut werden müsse am Ringdeich. Überall im Dorf sind große Plakatwände aufgestellt, die zeigen, wie hoch das Wasser vor einem Jahr stand. Es ist Mahnung, Protest, Verzweiflung.

Nils Führer vom Wasserwirtschaftsamt Donauwörth sagt, Zusum sei nicht von der Aufgabenliste verschwunden, andere Orte hätten jedoch aktuell eine höhere Priorität, was neue Schutzmaßnahmen angehe, auch weil dort mehr Menschen lebten. Bei Zusum müsse das Denken in Richtung „Objektschutz“ gehen. Die Häuser müssten so hochwasserfit wie möglich umgebaut werden, Heizungen sollten, soweit machbar, raus aus den Kellern. „Es gibt baulich einiges, was man tun könnte“, ist Führer überzeugt. Doch klar ist auch: All das kostet viel Geld. Und den alten Deich zu erhöhen, „das macht der baulich gar nicht mit“. Punktuell müssten am Deich Verbesserungen erfolgen. Aber HQ100-Schutz? Scheint es erst einmal nicht zu geben.
In Zusum haben die Menschen das Gefühl, der Staat lasse sie im Stich
Vor zwei Wochen haben die Zusumer Besuch aus dem Ahrtal bekommen. Die Nordschwaben haben damals kräftig gespendet, einige haben selbst in der im Sommer 2021 überfluteten Region angepackt. „Der Unterschied zu den betroffenen Gemeinden dort, der uns klargemacht wurde, ist: Dorthin ist staatliches Geld geflossen“, sagt Bablok. In Zusum dagegen haben sie das Gefühl, der Staat lasse die Menschen im Stich, bis sie aufgeben und absiedeln. Babloks Härtefallantrag wurde zuletzt abgelehnt.
„Wir wollen auch kein Härtefall sein, sondern eine Entschädigung dafür, dass wir das Wasser zugunsten der Stadt Donauwörth aufgenommen haben“, sagt er. Hintergrund ist der sogenannte Riedstrom. Der gilt als Bayerns größtes natürliches Überschwemmungsgebiet. Führt die Donau zu viel Wasser, strömt das Hochwasser über die Dämme – es sucht sich seinen Weg durch das Donauried, jenes weithin dünn besiedelte Gebiet „rechts der Donau“. Seit Längerem streiten Anwohner und Wasserwirtschaftsamt darüber, ob jene Ausleitungen natürlich oder künstlich bedingt sind. Es hängt viel an dieser Frage, Stichwort: Entschädigung.
Bablok sieht es als Ungerechtigkeit, dass der Staat die Zusumer weitgehend allein gelassen habe. Dass es kaum Aussicht auf ausreichenden Schutz und eine Entschädigung gebe. Dass sie letzten Endes auf ihren Schulden sitzen blieben, noch dazu im Ungewissen. Den Regen könne sie schon lange nicht mehr genießen, auch nicht nach trockenen Tagen, sagt Kathrin Bablok. Zu tief haben sich die Fluten vom Juni 2024 eingegraben.
Wer im Hochwassergebiet wohnt, sollte zwei Dinge wissen: 1. Eine Ölheizung ist eine Garantie für einen Totalverlust 2. Man muss man den Keller fluten, um das darauf stehende Gebäude statisch zu schützen. Wenn ein Deich das Vielfache vom Wert der Immobilien kostet, die er schützen soll, ist die Absiedlung eines Dorfes die sinnvollste Lösung. Langfristig sehe ich keine Alternative, als dem Fluss die Fläche, die ihm über Jahrhunderte hinweg gestolen wurde, wieder zurückzugeben, um Flutpolder zu schaffen. Die Starkregenereignisse werden nicht zurückgehen werden und die Hochwasser auch nicht.
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