"ich lebe ich schreibe": Zum Tod der Lyrikerin Friederike Mayröcker
Die große Lyrikerin Friederike Mayröcker ist gestorben, mit 96 Jahren. Was sie so besonders machte - und was sie sich selbst fürs Jenseits wünschte.
Dieses Bild vergisst man nicht. Friederike Mayröcker sitzt wie zusammengesunken an der Schreibmaschine, ringsum bedrängt von Papier- und Notizbergen. Das ikonische Foto von Doris Plöschberger entstand 2015. Es gibt dergleichen Aufnahmen mehr: Immer haust Mayröcker, ganz in Schwarz, in der Schreibklause (in der Wiener Zentagasse), in ihrer chaotisch verzettelten Wunderkammer.
In „fleurs“ (2016) schreibt sie: „Ich sitze gebückt fast knieend (wie Glenn Gould beim rasenden Spiel).“ Das Zimmer wandelt sich, wird zur bewegten Werkmetapher, dem „Närrinnenkasten“ und „Kaff“, zur „Wohnhütte“ und „Schwitzhütte“. Die Poetin arbeitet unentwegt am Text-Körper, dem sie sich als Körper-Text einschreibt. In „mein Herz mein Zimmer mein Name“ (1988), einem über 300 Seiten laufenden, lediglich durch Kommata unterteilten Satz, ist von Fieberanfällen, Herzklopfen, Schweißattacken und Tränenströmen die Rede. Die Autorin treibt sich mit „weiter! weiter!“-Rufen an, erschöpft und erregt zugleich.
Das sagte "Herz- und Liebesgefährte" Ernst Jandl über Mayröcker
Mayröcker horcht das „klopfende Herz des Textes“ ab. Stets schwingt die Angst vor dem Sprach- und Kontrollverlust mit, das hohe Alter fordert enorme Selbstdisziplin. Die Autorin macht sich fortlaufend Notizen, sie häuft Beobachtungen und Materialberge. Wie aber zieht sie aus dem Wust der Zettel und Aufzeichnungen, die sich über Tisch und Bett breiten, den Werkfaden? Da hilft der Zufall, viel mehr noch die Genauigkeit. Da schieben sich der synästhetisch stimulierte Sprachfluss und die analytische Sprachkonstruktion ineinander.
Das ursprüngliche Manuskript des Bandes „Abschiede“ (1980) umfasste über 1000 Seiten. Es hieß destillieren und konzentrieren. Nach acht Versionen blieben schließlich gut 200 Seiten übrig. Mayröcker hat die Feinarbeit des Dichters mit der Apothekerkunst verglichen: „Das ist so, wie wenn du auf eine Apothekerwaage noch eine Spur von einem Pulver drauflegst und dann stimmt es.“ Das Werk zeugt von einer unaufhörlichen Neugierde, einer tiefen Wesensverwandtschaft mit allem Lebendigen, von einem „Einssein mit aller Kreatur“: „Ich bekomme nicht genug von diesem Leben“. Der „HERZ- und LIEBESGEFÄHRTE“ Ernst Jandl rühmte „in jeder ihrer äußerungen die unerschöpfliche kraft ihrer liebe“.
Das oft so unbedacht verwendete „und so weiter“ wird ihr zum Schreibbekenntnis und Kompass ihres mehr als 100 Titel zählenden Oeuvres aus Prosa und Dichtung, Kinderbuch und Hörspiel. Wer zählt die Auszeichnungen! Österreichischer Staatspreis (1982), Hölderlin-Preis (1993), Literaturpreis der Bayerischen Akademie (1996), Büchner-Preis (2001), Huchel-Preis (2010), Bremer Literaturpreis (2011) . . . Und gerade stand sie mit dem Band „da ich morgens / und moosgrün. Ans Fenster trete“ (Suhrkamp) unter den fünf Nominierten für den Leipziger Buchpreis.
Die Malerei war Mayröcker ein Augen- und Textöffner
Mayröckers Schreiben geht ins Offene: „Man will dorthin, wo man nicht weiß, wo es ist.“ Dieser Satz stellt die Autorin außerhalb der gewohnten Raum- und Zeitachsen. Nichts wird kanalisiert, schon gar nicht im Sinne einer Story begradigt. Die rhythmisch ausgreifende Such- und Seelenbewegung verflüssigt gewohnte Bedeutungen, setzt die Beobachtung vom Begriff frei, eröffnet Abwege und Abschweifungen, gruppiert Surreales, Träume und Erinnerungen zu elliptischen wie kryptischen Sinneinheiten. „Larifari“ (1956) heißt Mayröckers erste Buchveröffentlichung. Im Untertitel nennt sie ihre Prosaminiaturen „ein konfuses Buch“. Das spottet jeder Ökonomie. Später, in der Trilogie „études“ (2013), „cahier“ (2014) und „fleurs“ (2016), wird die Textgestalt mutwillig wechseln.
Geboren wurde Friederike Mayröcker am 20. Dezember 1924 in Wien. Aufgewachsen ist sie im niederösterreichischen Deinzendorf. Die Kindheit blieb ihr nahe, der Ziehbrunnen, der Garten, die Blumen – durchgehende, das Dichten und die Dichtkunst mitsprechende Motive im Werk – wie die Vögel, wie Amsel und Schwalbe. In „fleurs“ steht das Glück geschrieben: „damals in D. auf der Schwelle zum Sommerhaus 1000/Schwertlilien, Malven, Ringelblumen, Veilchen, Hyazinthen, / Gauklerblumen, Lupinen, Carolinenrosen ........ ach wie/lieblicher Film vor meinem Auge“.
Der Augenaufschlag – noch ein großes Motiv, wie das tägliche Erwachen, das noch im jüngsten Band gefeiert wird: „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“. Mayröcker, der „Augenmensch“: „da fliegt mir / das Auge davon diese / Ringeltaube“. Die Autorin hat oft mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet. Die Malerei ist ihr ein Augen- und Textöffner (Tapiès, Hieronymus Bosch, Duchamp, Botero, Man Ray), die Musik ein ständiger Begleiter. Analogien liegen zutage. Mayröcker entlockt der Sprache neue Töne, sie kreiert ein ureigenes Notationssystem aus Schrägstrich und Klammer, Ziffer und „sz“, aus Frage- und Auslasssungszeichen.
„ich lebe ich schreibe“. In „brütt oder die seufzenden Gärten“ (1998) schlingt die Autorin ein barockes Assoziationsband um ihre „Schreib-Pflück-Pflicht“:
Denn es ist nicht nur 1 Aufschreiben, es ist 1 Tasten, Abtasten, Wirbeln, Herumwedeln mit Zeichen, Klängen, Gefühlen, Entfachungen, Zerreißungen, Demontierungen von Einfällen, Erfahrungen, Erinnerungen, Farben, und 1 Wiederzusammenstellen, Zusammenschweißen zu neuen, nie vorher existenten Objekten, flammenden Erscheinungen, Drosseln, Wortsträhnen, wie sie in blonden Strömen sich fallen lassen von den Wänden der Blumenhandlung, Bastgestecke, Tränen und Blendungen, geblendet von Tränen, Worttränen“.
Mayröcker und wie sie selbst über Verfall, Altern und Tod schrieb
Es könnte einen schwindlig machen, wie Mayröcker hier das Schwungrad der Wörter beschleunigt und uns zu Zeugen ihrer „betörenden Umhalsung“ der Sprache macht. Was war es für ein Befreiungsschlag, als sie nach 24 Jahren den ungeliebten Brotberuf der Englischlehrerin aufgeben konnte – vergleichbar ihrem ebenfalls der „grauen lehrerhülle“ entschlüpften Lebenspartner Ernst Jandl. Die beiden lebten jahrzehntelang zusammen, ohne gemeinsame Wohnung „und ohne kochtopf“. Sie wurden einem breiteren Publikum 1966 bekannt, sie durch die Gedichte „Tod der Musen“, er durch „Laut und Luise“. Der Tod des auftrittsgewaltigen, mit Buchstaben jonglierenden Jandl im Jahr 2000 traf Mayröcker ins Innerste. In ihrem Schreiben blieb der Partner lebendig, über das „Requiem für Ernst Jandl“ (2001), über „Und ich schüttelte einen Liebling“ (2005) hinaus.
Verfall, Altern, Tod – diese Linie gräbt sich ins Werk. Sie geht ein in Kippbilder und Paradoxien zwischen Hinfälligkeit und Aufbegehren, zwischen dem „Lusthaus der Kunst“ und „Seelenverlorenheit“. Dem „närrischen Grimassenschneider Tod“ antwortet die Sehnsucht, „Zauberbotschaften“ auszustreuen.
Schreiben heißt für Mayröcker, den Tod aufzuschieben, ihm die unaufhörliche Verwandlung des Gesehenen und Gelesenen (Jacques Derrida!) entgegenzuhalten, die Prosa und Vers verschlingenden Bänder der Wiederholung und Variation, das „amouröse Retardieren“, die „Welt-Zärtlichkeit“ in den Diminutiven – in „Flämmchen“ und „Stimmchen“ und droben in den „Himmelchen“.
Ob Friederike Mayröcker dort einen Wunsch frei hat? „Dann würde ich mir für das Jenseits ein Tischerl mit gebogenen Beinchen wünschen, damit ich weiterschreiben kann.“
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