Für Frau Prof. Dr. Ruth Wolff, diese exzellente Ärztin und Wissenschaftlerin, kommt es knüppeldick. Sie hat eine korrekte Entscheidung getroffen – was ihr letztlich auch ihr Kontrahent, ein katholischer Priester, bescheinigt –, eine Entscheidung aber, die sie Stellung, Ruf, Approbation kosten wird. Frau Prof. Dr. Ruth Wolff, die sich selbstwertbewusst nie als Opfer begreifen würde, wird zum Opfer.
Am Lauf der Dinge hat sie schwer zu kauen – und mit ihr ein Theaterpublikum, das landauf, landab zum Zeugen eines bösen Treibens um diese medizinische Koryphäe in Sachen Alzheimer wird. Es gibt da jetzt ein junges britisches Bühnen-Erfolgsstück, das durch die in ihm verhandelten perfiden Winkelzüge den Nerv trifft im Publikum: „Die Ärztin“ von Robert Icke (* 1986). In London 2019 uraufgeführt, hat es das deutschsprachige Theater schnell erobert. 2022 erschien es am Wiener Burgtheater, dann hatten in Deutschland die kleinen Bühnen die Nase vorn, Bamberg etwa und Konstanz. Derzeit läuft es in Bayern auf der Schiene München, Ingolstadt und – ganz frisch – Nürnberg.
„Sehr frei“ nach einem Stück von Arthur Schitzler
Was hat Robert Icke getan, dass „Die Ärztin“ auf die Spielpläne geholt und dann dort mucksmäuschenstill und gefesselt verfolgt wird? Er hat Arthur Schnitzlers bittere, in Österreich erst einmal zensierte Komödie „Professor Bernhardi“ (1912) aktualisierend überschrieben, vorgeblich „sehr frei“. Doch allein schon im Ausgangspunkt bleibt der Plot identisch: Ein junges Mädchen wird nach einer selbst an sich vorgenommenen Abtreibung als Notfall in eine Klinik eingeliefert, wo die Ärzte durch eine nicht eindämmbare Sepsis davon ausgehen müssen, dass sie dem schnellen Tod geweiht ist. Ruth Wolff aber stellt sich einem Priester entgegen, der der mutmaßlich Sterbenden letzte Absolution und Ölung geben will. Ihre im Prinzip anerkannten Gründe: Die Krankenakte weist keine Religiosität des Mädchens aus, es selbst bittet nicht um letzten Beistand, der das lebenswillige Mädchen - so Wolff - auf den Tod erschrecken, also zusätzlich leiden lassen würde.
Das nun versetzt erst den Priester in Rage, dann – nach eingetretenem Tod – den Klinikvorstand und einen Teil der Kollegschaft. Sowie anschwellend die öffentliche, anonyme Internet-Meinung und damit auch letztlich die danach handelnde Gesundheitsministerin. Sie alle haben ihre Gründe, massiv gegen Wolff vorzugehen – ethische, finanzielle, politische. Ein übles Spiel wird mit Vorwürfen bis hin zu Rassismus, Diskriminierung, Kirchenfeindlichkeit gespielt – kulminierend in einer TV-Debatte, der sich Ruth Wolff stellt, die aber unter Leitung eines smarten, durch Einschaltquoten getriebenen Moderators zum Kreuzverhör ausartet.
Jesus, sagt der Pfarrer, lebte nicht im Digitalzeitalter
Viele Konfliktstoffe kommen zusammen; die Welt ist komplex. Und auch das Finale stammt im Grunde von Schnitzler: Die Ärztin, nun ihrer Approbation beraubt, trifft noch einmal auf den Priester, der ihr einwandfreies Verhalten als Ärztin attestiert. Nun aber will Wolff wissen, warum er dies denn nicht gerade in der Gerichtsverhandlung gesagt habe? – zumal auch Jesus solche Wahrheiten ausgesprochen habe! Der Priester: „Ja, stimmt, nur lebte Jesus nicht im Digitalzeitalter.“
Nun also rennt „Die Ärztin“ ihrer Rehabilitierung nicht nur in München (Residenztheater) und Ingolstadt nach, sondern auch am Schauspiel Nürnberg. Ein Vergleich drängt sich auf: München (Inszenierung: Milos Lolic) liefert pausen- und atemlos einen vergifteten Staccato-Schlagabtausch von Vorwürfen und Rechtfertigungen, einen tragischen Sog mit Lisa Wagner als einer Ärztin von ungeheurer Fallhöhe. Rational gesehen ist sie jeder Unterstützung wert, emotional betrachtet aber bereitet das Probleme, weil sie jedem schärfstens über den Mund zu fahren fähig ist.
Identitäten spielen in der Nürnberger Inszenierung keine Rolle
Julia Bartolome als Ruth Wolff in Nürnberg (Regie: Martina Gredler) ist aus anderem Holz geschnitzt. Wohl weiß auch sie sehr genau um ihren Rang, ihre Stellung, ihr Wissen, doch ist sie auch eine Spur verletzlicher, nachdenklicher, zweifelnder, leichter aus dem Konzept zu bringen. Und Nürnberg lässt sich mehr Zeit bei den verbalen Heftigkeiten vor einem Altar mit Caravaggios Gemälde „Der ungläubige Thomas“ als Sinnbild für den Widerstreit von Glaube und Zweifel. Vor allem aber: In Nürnberg spielen Frauen auch Männer (und umgekehrt), Farbige auch Weiße (und umgekehrt). Was zunächst verwirrend wirkt, hat bald verständliches System: Im Kampf um Rassismus, Diskriminierung, Glaubenszugehörigkeit sollen offensichtliche Identitäten keine Rolle spielen. Egal, wo: hingehen, anhören, anschauen.
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