Was würde Susan Sontag wohl heute schreiben, wenn sie bei großen Pop- und Rockkonzerten angesichts in die Höhe gereckter Handys kaum den Blick freihätte auf die Bühne? 1977 bereits, also zu einer Zeit, in der es noch keine Handys gab, schrieb die amerikanische Autorin, Philosophin und Regisseurin in ihrem Essay „On Photography“ von derr immer hinter das unmittelbare Erleben zurückfallenden Abbildung von Realität der Fotografien. Sich ein eigenes Urteil bilden zu können, sich selbst ein Bild zu machen von Orten, Ereignissen, von Kunst und Kultur war zeitlebens die Maxime Susan Sontags (1933 - 2004), die als eine der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gilt. „Everything matters“, so schrieb sie als 16-Jährige in ihr Tagebuch - alles ist wichtig – und so auch der Titel einer Ausstellung, die das Literaturhaus München Susan Sontag widmet. Anknüpfungspunkte ihres Werks an die Gegenwart - siehe oben - finden sich dabei reichlich.
Susan Sontag wollte sich nicht festlegen lassen auf Kategorien wie Feminismus
Denn ist es nicht gerade heute mit den die Welt überflutenden News und Fake News wichtiger denn je, einen eigenen Standpunkt, eine eigene Haltung zu finden? Zeit ihres Lebens bestand die New Yorker Intellektuelle auf ihrer geistigen Unabhängigkeit, weder politisch noch ästhetisch, weder als Jüdin noch als Bisexuelle oder Feministin wollte sie sich kategorisieren lassen oder Position beziehen. Die Trennung zwischen Hoch- und Popkultur war ihr ein Graus. Sie schrieb für die New York Times ebenso wie für den Playboy, machte Werbung für Wodka und geißelte den amerikanischen Imperialismus. Sie sammelte Kitsch und Kunst gleichermaßen, umgab sich mit einer Fotogalerie berühmter Russen (Dostojewski, Eisenstein, Lenin) und liebte Filme wie „Fahrstuhl zum Schafott“. Die sinnliche Erfahrung war ihr Maßstab, Kunst zu kommentieren. Ihr Credo war es, sich inspirieren zu lassen von allem, oder, wie ihr Freund, der Schriftsteller Paul Auster einmal sagte: „Die Welt war ihr Thema.“
Und dazu gehörten auch Schönheit, Eleganz und Repräsentation, jener Glamour der New Yorker Society in den 1960er und 70er Jahren, der große Anziehungskraft auf Künstler hatte. Ikonisch die Bilder, die sie als die attraktive Intellektuelle inszenieren, mit der langen schwarzen Haarmähne (aus der nach ihrer Krebserkrankung in den 1990er Jahren die weiße Haarsträhne blitzte), im coolen Hermés-Ledermantel, oft umgeben von Büchern und Manuskripten, dem Betrachter mit ernstem Blick begegnend.
Die Ausstellung „Everything matters“ im Literaturhaus München ist den Straßenschluchten New Yorks nachempfunden
Sinnlich taucht auch die Münchner Ausstellung in diesen Sontag-Kosmos ein, deren Architektur den Straßenschluchten New Yorks nachempfunden ist, mit stilisierten Wolkenkratzern, in denen sich das Leben und Werk Sontags auffächern. Leuchtbänder flimmern an deren Seitenwänden wie auf dem Times Square, auf denen markante Statements aus ihren Schriften vorbeiflimmern: „Ich schreibe - und rede -, um herauszufinden, was ich denke.“

Fünf Stationen erwarten die Besucher und Besucherinnen in dieser Szenerie, die sich Sontags Persönlichkeit teils biografisch, teils thematisch nähern und mit den Begriffen „Lesen“, „Schreiben“, „Sehen“, „Handeln“ und „Über-Leben“ überschrieben sind. Fotos, Tagebucheinträge, erstmals gezeigte Faksimile von Manuskripten, Aufsätze in Zeitschriften und Erstausgaben ihrer Romane, stellen vor allem die schreibende Susan Sontag ins Zentrum - die aber zunächst eine besessene Leserin war. Bücher waren ihre Flucht aus einer Kindheit im provinziellen Tucson/Arizona, die sie immer als Zumutung und intellektuell unterfordernd fand. Ihr „Lebensbuch“ war Thomas Manns „Zauberberg“, erstmals verschlungen mit 14 Jahren, in dem sie „ganz Europa“ findet, aber auch einen homoerotischen Subtext, der für sie Spiegel ihres eigenen Empfindens ist. Umso enttäuschender fiel dann jedoch die persönliche Begegnung mit dem Schriftsteller in seinem Exil in Pacific Palisades aus, die sie später in der 1987 erschienenen Erzählung „Wallfahrt“ literarisch verarbeitete.
Das FBI legte eine Akte über Susan Sontag an
Getreu ihrem Motto, ihr Schreiben auf unmittelbare Erfahrungen zurückzuführen, reiste Sontag in den 1960er Jahren nach Nordvietnam, und gründete darauf ihren politischen Protest gegen den Krieg. Ihren Gedanken und Worten ließ Sontag oft auch Taten folgen. Bei einer Protestveranstaltung gegen die allgemeine Wehrpflicht wurde sie verhaftet, das FBI legte sogar eine Akte über sie an, deren Faksimile man nun in der Ausstellung in Augenschein nehmen kann. 1993 inszenierte sie Becketts „Warten auf Godot“ im kriegszerstörten Sarajewo, um auf das Leid der Opfer aufmerksam zu machen.

Persönliche Erfahrung, die eigene Krebserkrankung, liegt auch einem ihrer berühmtesten Texte, dem Essay „Krankheit als Metapher“ zugrunde. Darin wendet sie sich dagegen Krebs, nicht einfach als Krankheit, sondern als Folge sublimierter Gefühle, als Fluch oder Strafe zu interpretieren. Ihre Überlebens-Strategie, um als Kranke ihre Mündigkeit zurückzuerlangen, sich von metaphorisierter Schuld freizumachen. Dreimal erkrankte Susan Sontag an Krebs, am 28. Dezember 2004 starb sie in New York. Überlebt hat sie in ihrem brillanten und wortmächtigen Werk, in ikonischen Fotografien, aber auch in all den Listen, die sie auch mit viel Sinn für Humor und Selbstironie anfertigte. „Eigenschaften, die mich antörnen: 1. Intelligenz, 2. Schönheit, Eleganz, 3. Douceur, 4. Glamour, Prominenz, 5. Kraft, 6. Vitalität, Freude am Sex, Fröhlichkeit, Charme, 7. Emotionale Ausdrucksfähigkeit, Zärtlichkeit (verbal, körperlich), Herzlichkeit.“
Die Ausstellung läuft bis 30. November im Literaturhaus München. Der Katalog kostet 15 Euro.
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