Der erste Satz dieser Beobachtungen ist „Nebensächlichkeitsforscher bin ich“ und könnte auch ihr Titel sein. Der aber lautet „Kafka hat am Sonntag geschlossen“. Dabei handelt es sich um ein türkisches Schnellrestaurant im Mittelfränkischen – gewissermaßen ein gefundenes Fressen für diesen Nebensächlichkeitsforscher. Martin Oswald heißt der, ist gebürtiger Würzburger, bildender Künstler und promovierter Kunsterzieher mit Professur an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, hat lange als Hausautor der kabarettistischen Mehlprimeln gewirkt und mit seiner jetzigen Publikation auch Gerhard Polt zu seinem „dankbaren Leser“ gemacht.
Eine Bushalte in der Provinz wird für Martin Oswald zur Roman-Kulisse
Damit ist hinreichend Lob ausgesprochen, wenngleich der von Polt ausgemachte „ruhige Atem der Provinz“ gelegentlich auch zu Atemproblemen neigt. Das hat damit zu tun, dass die Bushaltestelle „Milchhaus“ von Dürrenmungenau als Kulisse nicht so viel hermacht wie das Empire State Building von New York oder die Pyramiden von Gizeh und das Mundartstück „Ma konns oafach koam recht macha“ in einer Turnhalle von Abenberg nicht so viel wie eine Puccini-Oper in der Mailänder Scala.
Und doch reizt Oswald die Erkenntnis, wie sich „die Grenzen zwischen Lokalem und Globalem verwischen“. So in Bechhofen, wo einst erwerbsmäßig Pech im Ofen gesiedet wurde und heute zwei naturgeschützte Baggerseen die siedende Weltmisere der Trockenheit erleiden.
Das stimmt nachdenklich, auch wehmütig wie alles Werden und Vergehen und macht einen Grundton dieser Beobachtungen aus. Zum Beispiel das Klöppeln. Wer klöppelt denn noch, weiß, was ein „Klöppelbrief“ ist oder dass der Begriff „fadenscheinig“ von diesem Handwerk herrührt? In Abenberg, wo Klöppeln über Jahrhunderte zum Haupterwerb gehörte, lässt sich das alles erfahren. Hier besteht die 1913 gegründete Spitzenklöppelschule bis heute und seit 2001 auf der hohen Burg auch das singuläre Klöppelmuseum.
Martin Oswald war „Turmschreiber“ in Abenberg
Fürwahr mehr als eine Nebensache – auch für einen „Nebensächlichkeitsforscher“ wie Martin Oswald. Der delektiert sich daran, während er im Oktober 2023 als „Abenberger Turmschreiber“ die Stadt und ihr Umland erkundet. Der Landkreis Roth, die Burgstadt Abenberg und der Burg-Förderverein küren alle drei Jahre diesen „Turmschreiber“. Als Solchem entgeht Martin Oswald der gewesene „Glockenstiftungsverein Ewigkeit“ von Obersteinbach so wenig wie die entlegene Eckkneipe „Hopfenstube“, deren ergrauter Betreiber seit 50 Jahren dem tönenden Woodstock anhängt. Und doch bemerkt Oswald in dieser Lokalität, die an einst blühenden Hopfenanbau erinnert: „Die bevorzugte Sprachform ist Schweigen.“
Das sind diese Sätze, die Lust zum Lesen machen. Der Autor äußert sie in seinem Provinzspiegel wie ein Schelm – lakonisch. Hintersinnig. Das betrifft auch seine komplexen Substantive: Nebensächlichkeitsforscher klingt ja noch harmlos im Vergleich zu Kartoffelkellerluftschutzraum, Flechtwerkrückenlehnstühle, Betonverbundplattenwelt, Ortsverbindungsstraßentote. Dennoch reicht Oswald kaum an deutsche Realität heran. Die offeriert nicht etwa zur amüsanten Lektüre am Feierabend, sondern allen Ernstes zur Bewältigung des grauen Alltags Wortungeheuer wie „Bürokratierückbaugesetz“ oder „Planfeststellungsbeschleunigungsgesetz“ oder gar „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“. Kafka (nicht der, der am Sonntag geschlossen hat) kann einpacken.
Info: Martin Oswald: „Kafka hat am Sonntag geschlossen. Beobachtungen eines Flaneurs“. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart; 153 Seiten, 22 Euro.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden