Eigentlich waren sie für ein Interview bei ihr zu Hause verabredet, aber an jenem Abend vor mehr als sechs Jahren hatte Ginette Kolinka den Termin vergessen. Der französische Radiojournalist Victor Matet, der eine Reportage über die Holocaust-Überlebende machen wollte, stand vor einer verschlossenen Tür. An ihr Handy ging Kolinka aber: Oh nein, sie habe das Treffen verschwitzt, rief sie. „Ich bin in meinem Sportkurs, aber holen Sie mich doch einfach hier ab, dann gehen wir ein Bier trinken!“ Ginette Kolinka war damals bereits 93 Jahre alt. Als Matet sie nach dem Abend in der Bar fragte, ob sie ein Taxi brauche, rief sie erstaunt: „Warum, fährt denn keine Metro mehr?“ Er habe schmunzeln müssen, als er diese energiegeladene alte Dame mit ihrer Sporttasche über der Schulter in die U-Bahn einsteigen sah, sagt Matet heute.
Es sollten viele weitere Begegnungen zwischen dem Journalisten und der einstigen Inhaftierten des Vernichtungslagers Birkenau folgen, damit sie ihm immer noch mehr von dem erzählte, was sie erlebt hat. Im April 1944 war sie im selben Konvoi Nummer 71 vom französischen Durchgangslager Drancy bei Paris nach Auschwitz transportiert worden wie die spätere Ministerin und EU-Parlamentspräsidentin Simone Veil und die Filmemacherin Marceline Loridan-Ivens. Beide sind inzwischen verstorben. Nur wenige können heute noch berichten wie Ginette Kolinka. 2019 schilderte sie ihre erschütternden KZ-Erfahrungen in ihrem Buch „Rückkehr nach Birkenau: Wie ich überlebt habe“ (verfasst mit Marion Ruggieri). Etwas später verarbeiteten Victor Matet und der Comic-Zeichner Jean-David Morvan diese „Rückkehr“ in der Graphic Novel „Adieu Birkenau“, die nun auch in deutscher Sprache erschienen ist.
Am Ende wog Ginette Kolinka noch 26 Kilo
Diese beginnt in dem Pariser Vorort, in dem Ginette Kolinka – damals hieß sie noch Cherkasky – mit ihrer großen quirligen Familie, jüdischen Atheisten, aufwuchs. Um unter der erbarmungslosen deutschen Besatzung einer Verhaftung zu entgehen, flohen sie nach Avignon in die unbesetzte Zone. Dort wurden Ginette, ihr Vater, ihr zwölfjähriger Bruder und ihr Neffe schließlich doch festgenommen und nach Auschwitz verschleppt. Ihre Familienmitglieder starben sofort bei der Ankunft in den Gaskammern, sie selbst überlebte das Grauen im Frauenlager und später in den KZs Bergen-Belsen und Theresienstadt, wo sie schließlich schwer an Typhus erkrankte. Beim Transport nach Bergen-Belsen in einem Waggon kam sie neben einer Frau zu sitzen, deren Körper immer wieder gegen sie kippte. Die Frau war tot, wie Ginette Kolinka schließlich erkannte. Doch anstatt das zu melden, holte sie sich bei der Essensausgabe deren Anteil. Erst im Mai 1945 wurde sie befreit und kam zurück nach Frankreich. 26 Kilogramm wog sie damals noch.

Jahrzehntelang hat sie über das Erlebte geschwiegen, um „die Leute nicht damit zu stören“. Auch glaubte sie, es sei zu tief in ihr vergraben, um jemals noch hervorgeholt zu werden. Bis ein Mitarbeiter der Shoah Foundation, die der Regisseur Steven Spielberg nach den Dreharbeiten zum Film „Schindlers Liste“ 1993 gründete und für die Zehntausende Holocaust-Zeitzeugen in Videointerviews zu Wort kamen, sie zum Reden brachte. Kolinka kamen ihre Erinnerungen detailreich zurück und sie begann, vor Schulklassen von der Geschichte ihrer Deportation zu berichten. Das tut sie bis heute, wenn auch nur noch im Großraum Paris. Zuvor fuhr sie regelmäßig mit Gruppen in die KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Victor Matet begleitete sie im Oktober 2020 bei ihrer letzten Reise dorthin und beschreibt das auch in der Graphic Novel. „Es tut mir leid, Kinder, dass ich euch so traurige Dinge erzählen muss“, sagt sie dort. Trotz all der Schwere haftet ihrer Person immer auch etwas Verschmitztes an. Sind die Schüler zu schüchtern, um Fragen zu stellen, holt Kolinka eine Tüte mit Bonbons hervor, um das Eis zu brechen.
Wichtig ist ihr vor allem der Wille, sich zu erinnern
In wenigen Wochen, am 4. Februar, feiert sie ihren 100. Geburtstag. Sie sei „ein Sonnenstrahl, die Verkörperung der Lebensfreude“, sagt Victor Matet über die Seniorin. Und das, obwohl sie die letzten Jahrzehnte ihres Lebens der Vergangenheit gewidmet habe. Im Vorwort der deutschen Version sei es Kolinka wichtig gewesen, eine Frage zu beantworten, die ihr oft gestellt wird: „Sind sie wütend auf die Deutschen?“ Vor mehr als 75 Jahren hätte sie zweifellos mit „ja“ beantwortet. Heute aber fiele ihre Antwort anders aus, sagt sie: „Ich bin wütend auf die Nazis. Ganz sicher nicht auf die Deutschen von heute. Welche Verantwortung trägt ein junger Deutscher des 21. Jahrhunderts an all dem?“ Die „Pflicht, sich zu erinnern“, von der in Frankreich oft die Rede sei, wandle sie um in den „Willen, sich zu erinnern“. Auch mit 100 Jahren, unermüdlich.
Ginette Kolinka, Victor Matet, JDMorvan: Adieu Birkenau – Eine Überlebende erzählt. Splitter Verlag, 112 Seiten, 25 Euro.
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