Hauptstadtflughafen BER eröffnet: Nach dem Start in den Sinkflug
Manch einer hatte nicht mehr daran geglaubt. Doch nun wurde der Hauptstadtflughafen BER mit neun Jahren Verspätung tatsächlich eröffnet. Und er steht schon vor der Pleite.
Hoch und runter ist das Geschäft eines Flughafens. Flieger starten, Flieger landen. In Berlin konnten sie viele Jahre lang beides nicht. Seit dem Wochenende klappt es. Manche sprechen von einem Wunder.
Doch wenn es das ist, ist es ein kleines und schales. Denn zunächst hatten sie am Samstag das "Runter" hinbekommen am Hauptstadtflughafen BER, diesem nicht enden wollenden Albtraum für Deutschland, das Land der Tüftler, Techniker und Ingenieure. Am Sonntagmorgen dann das "Hoch" mit dem Start einer Easyjet-Maschine nach London um 6.45 Uhr. Bei der Premiere sitzen 64 Passagiere an Bord. "Das ist für uns ein großer Tag", sagt Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup.
BER-Eröffnung: Die wohl längste Verspätung in der Geschichte der Luftfahrt
Das stimmt, aber der Tag zuvor war größer. Angespannte Blicke gehen an jenem 31. Oktober in den grauen Himmel im Süden Berlins. Eigentlich kann nichts mehr schiefgehen, aber am BER weiß man ja nie. Und dann rauschen sie donnernd ein. Zwei sehnsüchtig erwartete Flugzeuge gleiten am frühen Nachmittag aus der Höhe hinab und landen auf dem feuchten Asphalt. Die Piloten wollen parallel einschweben, aber der Wettergott spielt nicht mit. Die Wolken hängen zu tief. Zu gefährlich. So kommen die Flieger um ein paar Minuten versetzt an. Die Flughafenfeuerwehr spritzt Salut-Fontänen.
Die beiden Maschinen haben wahrscheinlich die längste Verspätung in der Geschichte der Luftfahrt. Sie eröffnen den neuen Flughafen der Hauptstadt, der gar nicht mehr neu ist, weil er schon viele Jahre und noch mehr Skandale auf seiner Haut aus Beton und Glas hat. Gefeiert wird auch nicht. Es gibt keine Party, keine jubelnden Berliner, keine euphorischen Kanzlerinnen-Worte an dem nieselregennassen Herbsttag. Der BER macht einfach auf. Was für ein Wunder!
Jahrelang stand er wie ein potemkinsches Dorf am Rande der Stadt und blamierte die Nation. "Willy Brandt hätte sich im Grab umgedreht", sagt ein Besucher zu seiner Frau. In der Tat: Die sozialdemokratische Heilsgestalt muss seinen guten Namen für ein Pannenprojekt hergeben. Und dieses Etikett wird immer an dem Flughafen kleben. Der Altkanzler jedenfalls war schon Jahre tot, als er zum Namenspatron gemacht wurde.
Wenigstens die Mächtigen von heute sind froh, dass die Geschichte des Versagens, des Pfuschs, der Lüge vorbei ist. Es geht jetzt los. Und auch der Spott, die Häme, die Schadenfreude sollen vorbei sein. "Wir erleben heute den ersten Tag einer Erfolgsgeschichte", sagt Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke von der SPD in die Kameras.
Um weitere böse Überraschungen zu vermeiden, hat die Flughafenmannschaft in den letzten Monaten akribisch geübt – als gelte es, die eigene Ehre vom Sudel zu befreien. 10.000 Komparsen simulierten im Trockentraining den Alltag am Airport.
Doch die Taxifahrer wollen nicht mitmachen bei dem verordneten Blick nach vorn, die Klimaschützer auch nicht. "Die coolsten Vögel bleiben am Boden", fordern die Fluggegner. Sie haben sich als Pinguine verkleidet, denen das ewige Eis wegschmilzt. Sie hocken im Terminal 1 und blockieren – bewacht von der Polizei – eine Rolltreppe. Später skandieren die Aktivisten vor dem Eingang ihre Parolen. Vier von ihnen seilen sich vom Dach ab. "Unser Ziel ist, den Flughafen lahmzulegen und die Eröffnung massiv zu stören", erklärt eine Sprecherin. Für die Pinguine in Menschengestalt ist der BER eine CO2-Schleuder, für sie passt er nicht mehr in die Zeit. Der Flughafen kommt in ihren Augen doppelt zu spät.
Die Berliner Taxifahrer dagegen haben nicht die Weltrettung im Blick, sondern ihr Portemonnaie. Sie verlangen, dass sie am BER Geld verdienen können. Bislang ist das nur 300 von ihnen erlaubt. Vom alten Flughafen Tegel sind sie aufgebrochen Richtung Süden. Der Airport liegt bereits auf brandenburgischem Territorium. Tegel war eine sichere Geldquelle, weil er nur per Bus an den Nahverkehr angeschlossen war. Beim BER ist das anders. Der Flughafen hat einen eigenen Bahnhof.
Weder Taxifahrern noch Klimaschützern gelingt es letztlich, die Eröffnung aus dem Tritt zu bringen. Dafür sind zu wenige Passagiere und Neugierige im großen Terminal 1. Jeder hätte Platz zum Tanzen in der riesigen Abflughalle. Die Putzkolonne wischt Flächen blank, die noch keine Fettfinger zieren. Nirgendwo Spuren der Abnutzung, abgestoßene Kanten, tiefe Kratzer.
Das Sicherheitspersonal steht in Positur an der Schleuse und wartet. Viele Schalter sind noch unbesetzt. Die Flughafenapotheke ist hell erleuchtet, verkauft aber noch keine Kopfschmerztabletten, weil niemand Pillen braucht. Die ersten Passagiere sollen ja erst am nächsten Morgen nach London abheben.
Nur einige hundert Leute sind gekommen, um bei der Eröffnung dabei zu sein. Sie sorgen für Umsatz bei den Cafés, kaufen Kaffee, Gebäck und belegte Brötchen. Das Hauptterminal kann 25 Millionen Passagiere pro Jahr abfertigen, statistisch also knapp 70.000 pro Tag. Wegen der Corona-Pandemie wird die Kapazitätsgrenze lange nicht erreicht werden. Zum jahrelangen Unvermögen kommt also auch noch Pech hinzu.
Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup: "Es ist kein historischer Tag"
"Es ist kein historischer Tag", sagt Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup im Moment seines Erfolges. Es sei ein wichtiger Tag, schiebt er hinterher. Großmannssucht und Arroganz waren jahrelang die treuen Begleiter der teuersten Bauruine der Republik. Lütke Daldrups großer Tag fällt zusammen mit seinem 64. Geburtstag und dem Todestag von Sean Connery, dem ewigen James Bond.
Wie dieser im Auftrag Ihrer Majestät die fiesesten Oberschurken zur Strecke bringt, hat der Flughafenchef das Chaos am Flughafen beseitigt. Er zähmte die Entrauchungsanlage, die liebevoll das Monster genannt wurde. Er durchschlug den Knoten, zu dem sich über hunderte Kilometer weit falsch verlegte Kabel verknäult hatten. Er sorgte dafür, dass Brandschutztüren tatsächlich auf- und zugehen. Dass Lütke Daldrup Stadtplaner ist, sich mit Großprojekten auskennt – er sollte die Olympischen Spiele nach Leipzig holen – und seit Jahrzehnten Politik macht, hat ungemein geholfen.
Das Sagen am BER hatten zuvor entweder Politiker, die vom Bauen nichts verstanden, wie seine Selbstherrlichkeit Klaus Wowereit, der langjährige Berliner Bürgermeister. Oder aber Manager, die von Politik nichts verstanden, wie die erfolglosen Flughafenchefs Rainer Schwarz und Hartmut Mehdorn.
Letzterer hat sich mit der sprachlichen Unmöglichkeit "Er wird immer fertiger und fertiger" in die Annalen eingeschrieben. Der Realitätsverlust an diesem im Sumpf versinkenden Großprojekt war genauso groß wie die Entschlossenheit der Durchhalteparolen und Versprechungen. "Ich mache mir überhaupt keine Sorgen, weil das ist beschlossen, dass er eröffnet wird", sagte Wowereit zum Beispiel im Frühjahr 2012. Fünf Wochen danach sollten 5000 Gäste und die Kanzlerin Berlins neues Tor zur Welt einweihen. Zu diesem Zeitpunkt war die Baustelle aber nur halb fertig.
Die Fehlerkette füllt ganze Seiten. Neben dem dicken Brocken Brandmeldeanlage, falsch verlegten Kabeln und den Brandschutztüren finden sich Schätze des Schlendrians: Hunderte holländische Linden wurden gepflanzt und später gehäckselt. Falsche Sorte. Wegen der stetigen Umplanung waren zeitweise Räume nicht mehr auffindbar. Das Licht brannte Tag und Nacht, weil es sich nicht ausschalten ließ. Die Rolltreppen zum unterirdischen Bahnhof waren zu kurz. Den Bahnhof mussten Geisterzüge durchfahren, um für Frischluft zu sorgen, weil es in der Röhre sonst geschimmelt hätte. Et cetera, et cetera.
Ein Eröffnungstermin nach dem anderen scheiterte schließlich an der Wirklichkeit, die Baukosten verdreifachten sich, der Spott verzehnfachte sich. Noch unglaublicher als die Pannenserie am BER ist, dass die großkopferten Baupfuscher alle ungeschoren davonkamen. Weder Wowereit noch sein damaliger Ministerpräsidentenkollege Matthias Platzeck aus Brandenburg oder der gescheiterte Dampfwalzenmanager Mehdorn mussten sich einem Richter stellen. Die organisierte Verantwortungslosigkeit endete erst, als Engelbert Lütke Daldrup vor drei Jahren seine schwierigste Mission übernahm. Er sollte sie meistern.
Kaum ist der BER fertig, steht er vor der Pleite
Doch der BER-Retter hat keinen Grund, ausgiebig zu feiern. Denn kaum ist sein Flughafen fertig, steht er schon wieder vor der Pleite. Und das liegt nur wenig an der Bekämpfung des Coronavirus. Es liegt an den Altlasten. Das Milliardengrab fordert neue Millionen, die sich zu Milliarden summieren könnten. Drei honorige Fachleute haben sich die Bücher der Flughafengesellschaft angeschaut und kommen in einem Gutachten zu dem Schluss, dass der Betrieb bis 2023 mit 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro gestützt werden muss.
Das Geld wird der Staat entweder direkt zuschießen oder Kredite von Banken mittels Bürgschaften absichern müssen. Weil sich der Hauptstadtflughafen-Bau von 2,5 auf mehr als sechs Milliarden Euro verteuerte, lasten hohe Schulden auf dem Flughafen, die abgestottert werden wollen. Von dem enormen Betrag hätte man zwei Flughäfen bauen können. Ohne die Rückendeckung des Staates würde der BER keine frischen Darlehen bekommen. Das Fachleute-Trio rechnet in seiner Analyse vor, dass die Einnahmen samt Schuldendienst künftig nicht ausreichen werden, um die Kosten zu decken. Corona verschärft die Finanznot, ist aber nicht ihre Ursache. Der Flughafenchef verspricht, dass er ab Mitte des Jahrzehnts liefern wird.
Es ist einfach kein Happy End in Sicht im märkischen Sand.
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