Frau Cantauw, seit wann gibt es Schultüten?
Christiane Cantauw: Älteste Quellenbelege gibt es für etwa 1780. Sie stammen aus Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Berlin, teils noch aus Rheinland-Pfalz. Eine „Zuckertüte“ wird im Jahr 1817 erwähnt: Ein Schüler in Jena hat zur Einschulung eine „mächtige Tüte Konfekt“ bekommen. Ein Kinderbuch von 1852 zeugt von der bereits damals großen Popularität der Schultüte: Da heißt es, dass es im Keller der Schule einen Baum gebe, von dem die Lehrkräfte den braven Schülerinnen und Schülern eine Tüte pflücken.

Welche Bedeutung hat das Ritual?
Cantauw: Es ist Zeichen für einen Neubeginn. Sinn der Schultüte ist es, den neuen Status des Kindes als Schulkind nach außen hin zu symbolisieren. Auch in der Familie ist das bedeutsam: Mit dem Schuleintritt sind auch andere Instanzen dem Kind gegenüber weisungsbefugt, die Lehrerinnen und Lehrer. Die Eltern drücken auch mit dem symbolischen Akt der Übergabe der Tüte aus, dass das Kind weiterhin Teil der Familie ist, aber eben nun auch einen weiteren nächsten Schritt gegangen ist auf dem Weg zum Erwachsenenalter. In den letzten 150 Jahren lässt sich feststellen, dass diesem Übergangsritual mehr und mehr Bedeutung beigemessen wird. Zunehmend wurden Schultüten auch zum Mittel, sich sozial abzuheben.
Das heißt, Größe, Aussehen und Befüllung der Tüte nahmen eine wichtigere Rolle ein?
Cantauw: Absolut. Größe und Gewicht der Schultüte waren lange Zeit wichtige Hinweise auf die soziale und wirtschaftliche Stellung der Eltern. Wer die schulische Bildung für wichtig hielt, der nahm auch die Einschulung wichtig. Das waren vor allem die bürgerlichen Familien in den Städten. Wer dagegen meinte, die Schule entziehe dem Elternhaus die Arbeitskraft der mithelfenden Kinder, der sah auch im Schuleintritt keinen Grund zum Feiern.
Wie haben sich die Schultüten über die Jahrhunderte verändert?
Cantauw: Schultüten sind immer auch Zeitspiegel. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es noch keine vorgefertigten Schultüten. Man verwendete Spitztüten, wie sie im Handel genutzt wurden, um Süßwaren zu verpacken. Im Erzgebirge gingen die Schultüten dann schon ab 1910 in Serienproduktion, ein Riesengeschäft. Seitdem sind bei der Gestaltung, abgesehen von der Grundform, kaum Grenzen gesetzt. Die Preise für gekaufte Schultüten liegen heute meist zwischen zehn und 30 Euro. Im Westen Deutschlands gibt es etwa seit der Jahrtausendwende den Trend, Schultüten selbst herzustellen, das ist im Osten weniger verbreitet. Durch die Verwendung selbstgebastelter Tüten entsteht durchaus sozialer Druck, denn auch hier müssen die Eltern investieren, nämlich ihre Zeit.
Der Inhalt ist wohl für die meisten Kinder wichtiger als die Tüte.
Cantauw: Anfangs waren Rosinen und getrocknete Früchte oder süße Backwaren in der Schultüte. Waren Eltern nicht so wohlhabend, wurden unten in die Tüte Kartoffeln oder Papier gepackt, als Füllmaterial. Manchmal war sogar ein Stück Kohle oder gar ein Holzschuh dabei. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen neben den Süßigkeiten Schulsachen und kleines Spielzeug in die Tüte. Heute reflektiert sich auch die Werthaltung und das Milieu der Eltern im Tüteninhalt: Es gibt Spielzeug, das die Logikentwicklung fördert, oder Zahnpasta – das wäre Eltern vor hundert Jahren nicht im Traum eingefallen.

Hat die Schultüte nach Deutschland auch die Welt erobert?
Cantauw: Nicht wirklich. Es hat viele Jahrzehnte gedauert, bis sich dieses Ritual von Sachsen und Thüringen aus fortgepflanzt hat. Noch in den 1930ern hatten sich Schultüten im Norden, Westen und Süden Deutschlands nicht durchgesetzt. Das kam vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. In der deutschsprachigen Schweiz und in Österreich sind Schultüten auch bekannt. Außerhalb der deutschsprachigen Welt versteht niemand, warum Kinder hier am ersten Schultag stolz bunte Papptüten herumtragen.
Heute gibt es Schultüten mit LED-Lichtern, mit eingebauten Wieher- oder Löwengeräuschen. Sind das übertriebene Exzesse eines schönen Rituals?
Cantauw: Ich bin Kulturanthropologin, nicht Kulturkritikerin. Rituale entwickeln sich weiter, so wie alles andere auch. Aus persönlicher Sicht denke ich, dass es nicht so schlimm ist, wenn die Schultüte nicht vollgestopft ist. Schulsachen, ein wenig Spielzeug und ein paar Süßigkeiten sollten schon drin sein. Wichtig ist, dass alle Kinder eine Schultüte haben, weil sie sich andernfalls als Außenseiter fühlen könnten. Und natürlich gönne ich allen Kindern die Überraschung beim Auspacken der Tüte: das ist ein wunderbares Wundertütengefühl!
Zur Person: Christiane Cantauw, 58, leitet die Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen in Münster und hat dort auch Lehraufträge am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Uni Münster.