Startseite
Icon Pfeil nach unten
Panorama
Icon Pfeil nach unten

Vorbild für München? Wie die Olympischen Spiele Paris veränderten

Frankreich

Ist Paris ein Vorbild für München? Das ist die Bilanz der Olympischen Sommerspiele 2024

    • |
    • |
    • |
    2024 gewann China im olympischen Wassersportzentrum im vergleichsweise armen Pariser Norden die Goldmedaille im Team-Synchronschwimmen. Heute lernen dort Tausende Kinder das Schwimmen – dank Olympia.
    2024 gewann China im olympischen Wassersportzentrum im vergleichsweise armen Pariser Norden die Goldmedaille im Team-Synchronschwimmen. Heute lernen dort Tausende Kinder das Schwimmen – dank Olympia. Foto: Xia Yifang, Xinhua/AFP

    „Plouff!“, kreischen die Kinder jedes Mal, wenn einer ihrer Freunde ins Becken springt. „Plouff“ ist französisch und bedeutet „platsch“. Viele schütteln sich erst einmal im kühlen Wasser, manche machen erste Armbewegungen. Lautes Lachen hallt durch das neue Schwimmbad von Pierrefitte-sur-Seine im Norden von Paris. Es steht inmitten einer unwirtlichen Gegend mit breiten Schnellstraßen, ehemaligen Fabrikanlagen, in der Ferne ragen Hochhäuser in den Himmel. Dieser Bau jedoch, mit seiner Decke aus Holz und Stahl und der langen Fensterwand, wirkt hell und freundlich.

    „Die Stimmung ist jeden Morgen super“, ruft Marine Genton, um angesichts des beträchtlichen Lärmpegels in der Halle mit ihrer Stimme durchzudringen. „Alle kommen gerne. Der Beweis: Kein einziger vergisst seine Schwimmsachen.“ Dabei haben drei der Kinder zuvor nie ein Schwimmbad von innen gesehen und hatten zunächst Angst, überhaupt ins Becken zu steigen. Die junge Lehrerin unterrichtet gerade 23 Viertklässler, die erstmals von einem Bademeister Schwimmunterricht erhalten. Zwölf Wochen lang, dann kommen andere Klassen an die Reihe.

    Viele Wettkampfstätten wurden bewusst in den nördlichen Pariser Vororten geschaffen

    Eigentlich steht Schwimmen in französischen Grundschulen fest auf dem Lehrplan, doch mangels Halle konnte das in Pierrefitte-sur-Seine bislang nicht umgesetzt werden. Den Wandel brachte Olympia. Ausgerechnet Olympia. Jene Mega-Veranstaltung, die sonst immer mit Verschwendung in Verbindung gebracht wird. Mit Milliardenkosten, Umweltsünden, Sportstätten, die zu Ruinen werden, weil sie niemand mehr nutzt. Dann kam Paris und verzauberte die Welt. Mit Spielen vor prächtiger Kulisse mitten in der Stadt, Stadien und Hallen, die bereits existierten, einigen wenigen Neubauten, für die es eine sinnvolle Anschlussverwendung gibt. Alles Argumente, die nun auch die bayerische Staatsregierung und die Stadt München bei ihrem Bestreben ins Feld führen, die Sommerspiele 2036, 2040 oder 2044 in die Landeshauptstadt zu holen.

    Die Organisatoren von Paris setzten zudem darauf, dass mehrere Wettkampfstätten wie das Stade de France, das größte Fußballstadion des Landes, und ein neu gebautes olympisches Wassersportzentrum, aber auch das Olympische Dorf in den nördlichen Vororten im Departement Seine-Saint-Denis liegen, dem ärmsten und zugleich jüngsten in Kontinentalfrankreich. Die meisten Bewohner hier haben Einwanderungshintergrund und sind in vielerlei Hinsicht sozial benachteiligt: Ihnen stehen vergleichsweise weniger Krankenhäuser, weiterbildende Schulen oder Freizeitangebote zur Verfügung – und eben auch deutlich weniger Schwimmbäder. Mehr als 60 Prozent der Zwölfjährigen im Departement konnten 2023 nicht schwimmen, gegenüber 20 bis 30 Prozent Nichtschwimmern in ganz Frankreich. In Seine-Saint-Denis liegt auch Pierrefitte-sur-Seine, das erst im Januar in die Stadt Saint-Denis eingemeindet wurde.

    „Die Stimmung ist jeden Morgen super“, sagt die junge Lehrerin Marine Genton im neuen Schwimmbad von Pierrefitte-sur-Seine.
    „Die Stimmung ist jeden Morgen super“, sagt die junge Lehrerin Marine Genton im neuen Schwimmbad von Pierrefitte-sur-Seine. Foto: Birgit Holzer

    „Als Paris 2017 die Ausrichtung der Spiele gewann, war klar, dass wir sie mit Aktionen vor Ort vorbereiten müssen, damit eine Dynamik entsteht“, sagt Hervé Borie, sozialistischer Stadtrat und Vize-Präsident des Gemeindeverbandes Plaine Commune. „Es war absurd, dass hier das olympische Wassersportzentrum entstehen sollte, während mehr als die Hälfte der Kinder nicht schwimmen konnte.“ Seitdem wurden mehrere Bäder renoviert oder neu gebaut, und einige Gemeinden stellten im Sommer mobile Schwimmbecken auf. Für die Jugendlichen war das umso erfreulicher, weil viele von ihnen im Gegensatz zu den meisten Gleichaltrigen in Paris in den Sommerferien nicht verreisen. Außerdem läuft in Seine-Saint-Denis und im südfranzösischen Marseille unter anderem mit Geldern aus einem Olympiafonds das Schwimmlern-Programm „1,2,3 Nagez!“, übersetzt: „1,2,3 Schwimmt los!“ Tausende haben seitdem das Gratisangebot genutzt.

    Beim IOC heißt es, dass der Sport mehr Platz in der französischen Gesellschaft bekommen habe

    Heißt das, dem Internationalen Olympischen Komittee (IOC) ist das Thema Nachhaltigkeit auch abseits der Sonntagsreden auf einmal ein ernstes Anliegen? Nimmt man die völlig zerfaserten Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d‘Ampezzo (Italien) mit Wettkampfstätten, die Hunderte Kilometer voneinander entfernt liegen, als Maßstab, muss die Antwort „Nein“ lauten. Im Fall von Paris wiederum wurde bei der Organisation ein eigener Stab für Nachhaltigkeit eingerichtet und ein spezieller Fonds aufgelegt. Es ging auch darum, die Akzeptanz der sportlichen Großveranstaltung in der Bevölkerung zu sichern – und damit, nach all der Kritik an vorherigen Spielen, die Zukunft von Olympia.

    Tania Bragia, verantwortlich für das Erbe der Spiele beim IOC, verweist darauf, dass Sport mehr Platz in der französischen Gesellschaft bekommen habe. „Ein Beispiel hierfür ist die Regel, dass alle Schulklassen ab der Grundschule täglich mindestens eine halbe Stunde Sport treiben.“ Einem Senatsbericht zufolge setzen diese Vorschrift allerdings noch nicht alle Schulen um. Darüber hinaus, so Bragia, seien in Zusammenarbeit mit Paris und mehreren Gemeinden im Departement Seine-Saint-Denis mehr Sportgeräte im öffentlichen Raum aufgestellt worden. Außerdem seien neue Karriere-, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten vor allem in den Vorstädten von Paris geschaffen worden. Bei mehr als 80 Prozent der Zulieferer handelte es sich um kleine oder mittlere Unternehmen, meist aus der Region. „Von den 180.000 entstandenen Jobs waren zehn Prozent Langzeitarbeitslosen vorbehalten, um diese dauerhaft zurück in den Arbeitsmarkt zu holen“, so Bragia.

    Fast ein Jahr später zeigt sich, dass zum einen die französische Metropole selbst in mehrfacher Hinsicht profitiert hat, etwa in Form des Ausbaus seines Verkehrsnetzes, neuer Einrichtungen wie einer Sporthalle an der Porte de la Chapelle im Norden, intensiver Renovierungsarbeiten, und auch in Sachen Tourismus und Wirtschaft dank der hohen Besucherzahlen. Die Seine, in der einige der olympischen und paralympischen Schwimmwettbewerbe stattfanden, und ihr Nebenfluss Marne waren für 1,4 Milliarden Euro einer umfassenden Reinigungsaktion unterzogen worden. Ab diesem Sommer öffnen mehrere Badestellen – bis vor wenigen Jahren völlig undenkbar. Als Bürgermeisterin Anne Hidalgo im vergangenen Frühsommer medienwirksam in die Seine sprang, machte sie ein Versprechen wahr, das ihr Vor-Vorgänger, der spätere Präsident Jacques Chirac, bereits 1988 gegeben und nie eingelöst hatte.

    Auch in den ärmeren Wohnvierteln im Norden von Paris sind die Wohnungspreise Stück für Stück gestiegen

    Aber auch der Norden der Hauptstadt erfuhr spürbare Veränderungen. Bragia spricht von einem „Beschleunigungseffekt für den Ausbau von Infrastrukturen“. Die automatisierte Metro-Linie 14 bis Saint-Denis wurde besonders schnell fertiggestellt, zwei neue Brücken verbinden mehrere Städte miteinander. Außerdem wird das Olympische Dorf gerade noch umgebaut. „Wenn es im September öffnet, entsteht eine neue Dynamik für das ganze Viertel“, verspricht die IOC-Funktionärin. Die ehemaligen Unterkünfte der Olympia-Teilnehmer werden zu Wohnungen für 6000 Menschen umgebaut, ein Drittel davon Sozialwohnungen. Es entstehen Geschäfte, eine Kinderkrippe, Restaurants und Büros. Im Pleyel-Turm, dem früheren Sitz der Familienkasse des Departements, eröffnete ein Luxushotel mit einer Rooftop-Bar und einem Schwimmbad auf dem Dach. Die Verwandlung des Viertels bringt aber auch mit sich, dass Alteingesessene gehen mussten – Tabakläden, Couscous-Restaurants oder der Friseursalon von Hacen und Malika Madi. „Sie drängen uns zu gehen, aber wir sind im Rentenalter, wir sind jetzt dran“, sagten sie vor dem Umbau, mit entsprechend fatalistischem Unterton.

    Das Departement unterliegt seit Jahrzehnten einem großen Wandel, erzählt Stadtrat Hervé Borie.
    Das Departement unterliegt seit Jahrzehnten einem großen Wandel, erzählt Stadtrat Hervé Borie. Foto: Birgit Holzer

    Hielten die nördlichen Pariser Banlieues jahrelang der Gentrifizierung stand, die in anderen Vorstädten im Osten oder Süden längst im Gang ist, so ist sie nun nach und nach in einigen Vierteln erkennbar – auch an den Wohnungspreisen. In Saint-Denis stiegen sie laut der Agentur „Meilleurs Agents“ trotz der Immobilienkrise in Paris, durch die die Preise erstmals seit Langem zurückgingen, binnen zehn Jahren um 21 Prozent. Sie liegen aktuell bei gut 4000 Euro pro Quadratmeter, das ist immer noch nicht mal die Hälfte vom Durchschnittspreis in der Hauptstadt.

    Das Departement unterliegt seit Jahrzehnten einem großen Wandel, erzählt Hervé Borie. „30 Jahre lang war Seine-Saint-Denis das größte Industriegebiet Europas, doch im Zuge der Deindustrialisierung ab den 1970er Jahren schlossen Fabriken und es verschwand die Welt der Arbeiter. Das Image von Seine-Saint-Denis verschlechterte sich zunehmend.“ Obwohl die Stadt an Paris grenzt, schienen sie Welten voneinander zu trennen. Ob sie nun zusammenwachsen?

    Schon die Fußball-Weltmeisterschaft 1998 brachte einen ersten Schub

    Ein erster positiver Umbruch fand 1998 statt, als die französische Nationalmannschaft, die aufgrund ihrer Multikulturalität „black, blanc, beur“ („schwarz, weiß, arabisch“) genannt wurde, die Fußball-WM gewann – zu Hause, im damals neuen Stade de France. „Die Euphorie war riesig, plötzlich hatte man keine Angst mehr vor der kulturellen Durchmischung“, erinnert sich Borie. „Die Wirtschaft entdeckte Saint-Denis, immer mehr Unternehmen siedelten sich an.“ Heute haben hier unter anderem die Filialen der französischen Staatsbahn SNCF und viele Kino- und Fernsehproduktionsfirmen ihren Sitz.

    Zugleich halten sich die Vorurteile hartnäckig, beklagt der Lokalpolitiker. „Was hat man vor den Spielen nicht alles gehört: Horden Wilder aus Seine-Saint-Denis würden die Touristen angreifen und ausrauben. Und was ist passiert? Alles lief voller Freude und in bester Stimmung ab.“ Mehrere Fanzonen wurden eingerichtet, die Menschen feierten und fieberten vor großen Leinwänden mit. „Die Welt hat die Welt empfangen“, sagt Borie in Anspielung auf die mehr als 130 Nationalitäten, die laut Stadtverwaltung in Saint-Denis vertreten sind. Für das Selbstbewusstsein der Bewohner war es wichtig, dass vor ihrer Haustür ein historisches Ereignis stattfand, sie Teil davon waren und nicht ausgeschlossen – wie sonst so oft. „Sehen Sie sich die Kinder an, was die für einen Spaß haben“, sagt der Politiker und blickt auf den Schwimmkurs in Pierrefitte-sur-Seine. Vielleicht befinde sich unter ihnen ja der nächste Léon Marchand. Mit vier olympischen Medaillen wurde der 22-Jährige zum bejubelten Spitzenstar der Pariser Spiele. „Wir haben tausende Jugendliche und damit auch tausende Talente. Sie müssen sich nur ausdrücken können.“ (mit anf)

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden