Die Reifen quietschen. Der Geländewagen rattert über rissigen Asphalt. Die Straße führt durch eine gespenstisch-leere Stadt. Die hereinbrechende Nacht hüllt halb zerstörte Wohnblocks in tristes Grau. Jetzt heult der Motor des Geländewagens auf. Der Fahrer gibt Vollgas, wann immer es die Straße zulässt. Vier Soldaten in Schutzwesten und mit Helmen auf den Köpfen drücken sich in die Sitze, auf dem Dach sind die Antennen von Störsendern aufgeschraubt. Sie sollen die Radiowellen unterbrechen, die die russischen Drohnen steuern. „Doch dazu muss die Frequenz übereinstimmen“, sagt Jaroslav, selbst ein Drohnenpilot.
Ukrainekrieg: Der Tod durch einen Drohnenangriff kann jederzeit kommen
Der Tod durch einen Drohnenangriff kann in Pokrowsk, im Osten des Landes, jederzeit kommen: für die ukrainischen Soldaten, die die Stadt verteidigen, und für die wenigen Zivilistinnen und Zivilisten, die geblieben sind. Von der Gefahr erzählen etwa die ausgebrannten Autos, die am Straßenrand stehen. Gegen die Drohnen-Varianten, die über Glasfaserkabel gelenkt werden, gibt es gar keinen Schutz durch Störsender. Jaroslav, der Soldat, weiß das nur zu gut.
Der Geländewagen rattert über einen Gleisübergang. Die Männer in der Fahrzeugkabine werden durchgerüttelt. Der Wagen macht regelrecht Sprünge, dann streift das Licht seiner Scheinwerfer eine Betonmauer. Ein bisschen später stoppt der Wagen abrupt. Die Soldaten reißen die Türen auf, ziehen aus dem hinteren Teil eine Transport-Drohne, schleppen sie im Laufschritt zum überdachten Eingang eines verlassenen Wohnblocks. Danach holen sie große Akkus. Kaum ist die letzte Batterie von der Ladefläche geräumt, startet der Fahrer durch. Die Motorgeräusche verschwinden ebenso schnell in der Ferne.
Jaroslav (22), Anatoliy (44) und Dimitri (33) bringen Drohne und Ausrüstung in das Haus. Anatoliy, ein Bär von einem Mann, heizt den Kanonenofen ein. Die Nachtschicht beginnt. Jaroslav verschwindet im lang gezogenen Keller. Er soll Granaten für den bevorstehenden Einsatz vorbereiten. Die Drohne verfügt über eine Nachtsicht-Vorrichtung. Im Laufe der Nacht werden Jaroslav und seine Kameraden sie zur schwer umkämpften Linie der ukrainischen Verteidiger fliegen, dort Nahrungsmittel und Drahtrollen abwerfen. „Falls die Russen versuchen vorzurücken, werfen wir Granaten auf sie“, erklärt er.
Russland? „Sie sind nicht an einem wirklichen Frieden interessiert“
Auf Jaroslavs schusssicherer Weste ist eine aufgenähte US-Flagge zu sehen. Donald Trumps „Friedensinitiative“ ist bei den Soldaten Thema an diesem Tag. Politisch äußern dürfen sie sich vor einem Journalisten nicht. „Solange uns die Amerikaner unterstützen, werde ich auch das Badge nicht abnehmen“, sagt er also nur. Was er vom US-Präsidenten hält, kann man sich denken, Putins Russland traut er ohnehin nicht. Er sagt: „Sie sind nicht an einem wirklichen Frieden interessiert.“
Sein Misstrauen hat gute Gründe. Russland erhielt 1994 im Rahmen des Budapester Memorandums das ukrainische Nuklear-Arsenal, das noch aus Sowjetzeiten stammte. Die Ukraine trat dem Atomwaffen-Sperrvertrag bei. Großbritannien, die USA und Russland gaben der Ukraine wiederum weitreichende Sicherheitsgarantien. Doch: „2014 marschierten russische Truppen im Donbas und auf der Krim ein“, sagt Jaroslav. Auf russische Versprechen gibt in der ukrainischen Armee niemand etwas. Ins Gedächtnis eingebrannt hat sich der 29. August 2014. Damals starben 366 Soldaten unter heftigem Beschuss, als sie einen von russischer Seite zugesicherten Korridor bei Ilowaisk zur Flucht nutzen wollten. Noch einen Tag vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, stritt Putin jegliche Absicht ab, seine Truppen ins Nachbarland vorrücken zu lassen.
„Ich verteidige hier mein Land“, sagt Jaroslav
Die Lage heute? Menschenrechtsorganisationen berichten von systematischer Folter in den von Russland besetzten Gebieten, Tausende gelten als vermisst. Wer sich weigert, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, verliert den Zugang zu Schulen, Universitäten und Krankenhäusern. Auch das Eigentum wird nicht verschont. Kinder und Jugendliche werden früh militärischem Drill unterworfen.
„Ich verteidige hier mein Land“, sagt Jaroslav. Er hatte sich kurz nach Beginn der Invasion freiwillig zur Armee gemeldet. „Nur, wenn wir stark sind, können wir unsere Freiheit und Unabhängigkeit retten. Nur dann nimmt uns Putin ernst.“ Auf seinem Smartphone ist ein Foto von ihm und seiner Freundin zu sehen, er verwendet es als Bildschirmschoner. Ein junges, glückliches Paar. Dass die beiden bald einen stabilen, einen dauerhaften Frieden erleben werden können, daran glaubt Jaroslav nicht.
Der Einsatzbefehl kommt. Jaroslav schaltet seine Stirnleuchte auf Rotlicht. Mit Dimitri trägt er die Drohne vor das Haus. In der Nähe: eine Explosion. Sie beeilen sich. Ihre Handgriffe sitzen.
Hunderte Kilometer entfernt in Kiew. Trotz des Regens ist Anastasia zum Maidan gekommen. Dort findet sich einer der traurigsten Orte der Stadt, ein Meer aus Ukraine-Fähnchen. Als Putins Truppen vorrückten, steckten Angehörige sie in die Rasenflächen am Rande des Unabhängigkeitsplatzes. Sie hörten seitdem nicht auf damit. Jedes Fähnchen steht für eine oder einen Gefallenen. Aus wenigen Fähnchen wurden in den vergangenen Jahren Abertausende.
„Aber es bedeutet so viel Angst um geliebte Menschen. Das bedeutet der Krieg.“
„Am 12. März 2023 kam mein Vater an der Front ums Leben“, sagt Anastasia, eine 18-jährige Studentin. „Ich habe damals das Fähnchen ungefähr in diesen Bereich in das Erdreich gesteckt.“ Sie zeigt auf eine Stelle nahe dem Gehweg, an der die Fähnchen mittlerweile derart eng aneinander stehen, dass Anastasia nicht mehr erkennen kann, wo das Fähnchen ihres Vaters zu finden ist. „Aber ich weiß es ungefähr“, wiederholt sie. Sie komme oft hierher, um an ihn zu denken. Frieden, sagt Anastasia, das wäre wunderschön. Ihr Vater habe sie immer gewarnt, dass Russland die Ukraine als Nation zerstören wolle. „Ich bin stolz auf ihn. Er fehlt mir so“, sagt sie.

Ähnlich wie Jaroslav, der Soldat, erklärt auch die Studentin: „Wir müssen jetzt alle standhalten.“ Mehr Männer sollten sich zur Armee melden, meint sie. „Aber es bedeutet so viel Angst um geliebte Menschen. Das bedeutet der Krieg.“ Dann macht sie sich auf den Weg zur Uni.
Währenddessen laufen die 55-jährige Anna und die 35-jährige Oxana die Treppe einer Unterführung nach oben zum Unabhängigkeitsplatz. Auf den letzten Stufen sehen sie das Fahnenmeer. Anna stammt aus der Westukraine, sie ist zu Besuch in Kiew. „Mein Gott. So viele Fahnen“, sagt sie. Dann beginnt sie zu weinen, und Oxana nimmt sie in den Arm. „Es ist eine furchtbare Zeit“, sagt Anna. „Vor allem, seit Trump Präsident der USA ist. Jeden Tag kommt eine andere schlechte Nachricht wegen ihm.“ Sie spricht über den Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi im Weißen Haus, jener Besuch, bei dem Trump Selenskyi niedermachte. „Die Respektlosigkeit von Trump“, sagt Anna und schüttelt ärgerlich den Kopf. „Das war ein Schock für uns alle in der Ukraine“, sagt Oxana. Wieder Anna: „Es ist unfassbar, wie Trump sich Putin anbiedert. Sind die Amerikaner überhaupt noch unsere Partner?“ Wieder Oxana: „Wir können jetzt nur noch auf Europa hoffen.“
Das Einfrieren der Frontverläufe allerdings würde nach Ansicht von Anna Russland die Gelegenheit geben, weiter ungestört aufzurüsten. „Dann kommt ein vielleicht noch viel größerer Krieg. Putin will mehr als die Ukraine, ich hoffe nur, das wird ganz Europa klar“, sagt sie. Als sie und Oxana das Fahnenmeer verlassen, setzt der nächste Regenschauer ein. Auf vielen Fahnen steht „Pokrowsk“ als die Front-Linie, an der ein Soldat oder eine Soldatin starben. Es ist jene Linie, an der Drohnenpilot Jaroslav mit seinen Kameraden kämpft. Und die Hoffnung auf ein Ende des Krieges nicht aufgibt.
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