Es war der große Moment der Erneuerung. Nach 14 Jahren konservativer Regierungszeit schien die britische Labour-Partei nach ihrem Wahlsieg im Sommer 2024 bereit für den Aufbruch. Keir Starmer, der nüchterne Reformer, zog in die Downing Street Nummer 10 ein – getragen von einem großen Versprechen: Wandel. Alles sollte besser werden. Ein Jahr später wirkt diese Verheißung angeschlagen. Nicht nur die Erwartungen der Bevölkerung machen der Regierung zu schaffen – auch die eigene Partei stellt sich zunehmend quer.
Hintergrund ist die Abstimmung über ein Gesetzesvorhaben zur Neuregelung der Versorgung von Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Das löste eine parteiinterne Rebellion aus. Nur durch einen Rückzug zentraler Vorhaben konnte ein Desaster abgewendet werden. Dennoch stimmten viele Labour-Abgeordnete gegen das eigene Gesetz. Es ist ein Riss in der Parteidisziplin nach nicht einmal einem Jahr und trotz einer deutlichen Mehrheit im Parlament. In der Fragestunde im Unterhaus am Mittwoch griff die konservative Oppositionschefin Kemi Badenoch Starmer scharf an: „Er ist zu schwach, um irgendetwas hinzubekommen.“ Die britische Times wertete das Einlenken unter Druck als „Demütigung“, der konservative Telegraph sprach von einer „Farce“. Starmer gehe „schwer beschädigt“ aus der Sitzung hervor, schrieb die Zeitung Guardian.
Verrät Labour seine eigenen Ziele?
Der Grund für den Widerstand in den eigenen Reihen der Regierungspartei: Die Maßnahme trifft einen sensiblen Bereich. „Labour ist stark in der sozialdemokratischen Tradition verwurzelt. Die Menschen in der Partei glauben an Armutsbekämpfung, an die Verringerung von Ungleichheiten und an grundlegende, egalitäre Ziele“, sagt Karl Pike, Politologe an der Queen Mary University London, gegenüber unserer Redaktion. Doch in Feldern wie der Reduzierung von Kinderarmut, die vielen Mitgliedern am Herzen liegen, habe diese Regierung im ersten Amtsjahr so gut wie nichts unternommen.
Labour hatte den wirtschaftspolitischen Kurs mit dem Anspruch begründet, das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen. Steuererhöhungen wurden früh ausgeschlossen, stattdessen setzte die Regierung auf Haushaltsdisziplin. Doch intern wuchs die Unzufriedenheit. Die Partei ließ sich vom Sparkurs nicht überzeugen – zentrale Reformpläne mussten kassiert werden. Jetzt fehlen im Haushalt von Finanzministerin Rachel Reeves mehrere Milliarden Pfund.
Partei definiert sich durch Abwehrhaltung gegen Reform UK
Schwierigkeiten in der öffentlichen Kommunikation verstärkten das Problem. Frühzeitig kürzte die Regierung die Heizkostenzuschüsse, auf die viele ältere Menschen angewiesen sind. Innerhalb der Bevölkerung wuchs der Unmut, die Regierung ruderte schließlich zurück. Die Folge: Auch nach einem Jahr ist nicht klar, wofür Labour steht. Starmer bemühte sich zwar, Orientierung zu geben, zu erklären, dass Wachstum die Grundlage für Investitionen und soziale Gerechtigkeit schaffen soll – doch die Botschaft verfing nicht und wurde durch Kehrtwenden weiter verwässert.
Pike beschreibt dies auch als „Macronisierung“ – in Anlehnung an den Regierungsstil des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Gemeint ist eine Politik, die sich stark an der politischen Mitte orientiert und darauf zielt, aufstrebende rechte Kräfte abzuwehren. Labour präsentiere sich in der Regierung weniger als Gestalter mit eigener Vision, sondern als Gegenmodell zur rechtspopulistischen Reform UK unter Nigel Farage. Der Experte warnt: Wer sich dauerhaft nur durch Abwehr definiert, ohne ein eigenes politisches Projekt voranzutreiben, riskiert langfristig an Bedeutung zu verlieren. Tatsächlich: In aktuellen Umfragen legt Reform UK weiter zu.
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