Kuhhandel oder Krimi? Am Ende eines mehrstündigen Sitzungsmarathons rund um den Tagesordnungspunkt „Zustrombegrenzungsgesetz“ konnten Beobachter sowohl dem einen wie auch dem anderen zustimmen. Eine immer wieder verlängerte Sitzungsunterbrechung, Pendeldiplomatie zwischen den Büros der Fraktionsvorsitzenden, angestrengte Gesichter und teils wüste Beschimpfungen sprachen für den Krimi. Der allerdings einen Ausgang ohne klaren Sieger hatte.
Es ist elf Uhr, als im Bundestag der „Zusatzpunkt 35“ aufgerufen wird. Gemeint ist das „Zustrombegrenzungsgesetz“, die CDU/CSU will damit den Familiennachzug beenden und der Bundespolizei mehr Befugnisse einräumen. Doch zur Debatte kommt es erst einmal gar nicht. Unions-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei bittet um das Wort und, als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) es ihm erteilt, um eine Sitzungsunterbrechung. Seine Fraktion habe Beratungsbedarf, erklärt der CDU-Politiker. Bas gibt dem Wunsch statt. Doch die Sitzungsunterbrechung dauert nicht, wie von Frei erbeten, 30 Minuten. Sie zieht sich über mehrere Stunden.
Bundestag: Lange Diskussionen über "Zustrombegrenzungsgesetz"
Dazwischen spielen sich denkwürdige Szenen ab. Die Fraktionen ziehen sich in ihre Räume zurück, die zwei Ebenen über dem Plenarsaal liegen. Immer wieder öffnen sich Türen, Unterhändler eilen über die Gänge. Es geht in den Verhandlungen auch um Inhalte. So sehen die Grünen beispielsweise beim Punkt „Familiennachzug“, der ohnehin auf 12.000 Menschen pro Jahr begrenzt ist, Verstöße gegen die Kinderrechtskonvention. Vor allem geht es aber darum, wie verhindert werden kann, dass die AfD erneut einem Unions-Antrag zur Mehrheit verhilft. Merz wechselt oft vom Fraktionssaal in sein Büro. Mal spricht er mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, mal mit den Grünen, mal mit der FDP.
Nach gut einer Stunde Sitzungsunterbrechung stellt Merz fest: SPD und Grüne wollen dem Gesetz seiner Fraktion keine Chance geben. Der CDU-Vorsitzende beschließt, das „Zustrombegrenzungsgesetz“ wie geplant zur Abstimmung zu stellen. Eine Mehrheitsbeschaffung durch die AfD nimmt er in Kauf, ohne sie wird es nicht gehen. Denn die FDP will zwar zustimmen, es werden bei den Liberalen aber mindestens 15 kritische Stimmen gezählt. Weitere Stimmverweigerer muss Merz in den eigenen Reihen vermuten. Die Kritik von Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) an Merz vom Vortag, die bundesweiten Demonstrationen gegen die CDU haben Spuren hinterlassen. Es ist Freitag, am Wochenende sind die Abgeordneten wieder in ihren Wahlkreisen. Weit weg von der Berliner Blase stellen sich den realen Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger.
Asyldebatte im Bundestag: SPD und CDU beschuldigen sich gegenseitig
Gut zwei Stunden nach der Sitzungsunterbrechung füllt sich der Sitzungssaal langsam wieder. Die Abgeordneten der AfD haben ihn ohnehin nicht verlassen, ihre Meinung ist bei den Beratungen nicht gefragt. Auf der Regierungsbank liegen Merkels Memoiren, das blau eingebundene Buch gehört Michael Kellner, der Grüne ist Staatssekretär im Wirtschaftsministerium seines Parteifreunds Robert Habeck. Zeit zur Lektüre ist durchaus vorhanden, denn die Hoffnung auf eine Sitzungsfortsetzung erfüllt sich nicht. SPD und FDP beraten erst mit Merz getrennt, gegen 13.15 Uhr sitzen alle beteiligten Fraktionsvorsitzenden zusammen. Auf dem Tisch liegt dabei auch ein Vorstoß der FDP. Sie schlägt SPD und Grünen vor, dass Liberale und Union dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) zustimmen, wenn Rot-Grün dafür im Gegenzug für das „Zustrombegrenzungsgesetz“ votiert.
Rund drei Stunden, nachdem Bärbel Bas die Sitzung unterbrochen hat, setzt Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) sie fort. Die Union stellt das „Zustrombegrenzungsgesetz“ zur Abstimmung, alle Bemühungen um einen Kompromiss sind gescheitert. Die anschließende Aussprache ist heftig, die Fronten sind verhärtet, das Motto lautet: Wir sind nicht schuld, die anderen sind es. Die Situation sei herbeigeführt worden, „durch eine Leichtfertigkeit, deren Zeugen wir am Mittwoch geworden sind“, erklärt etwa SPD-Fraktionschef. SPD und Grüne seien gesprächsbereit gewesen, Merz habe jedoch „mit dem Kopf durch die Wand“ gewollt und unannehmbare Bedingungen gestellt. „Es ist nicht zu spät“, sagt der Fraktionschef in Richtung der Unions-Fraktion und ergänzt: „Der Sündenfall wird sie für immer begleiten. Aber das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schließen“.
Abstimmung am Mittwoch: Merz lehnt Entschuldigung ab
Eine Entschuldigung für das Szenario am Mittwoch liegt Merz fern. Der zur Abstimmung gestellte Antrag zur Eindämmung der illegalen Migration „ist und bleibt in der Sache richtig“, sagt er. Grüne und SPD hätten aus der Abstimmung „eine Zusammenarbeit mit der AfD konstruiert“, kritisiert der Spitzenkandidat und beteuert erneut: „Von meiner Partei aus reicht niemand der AfD die Hand. Niemand“.
Die Rolle als Spaltpilz ist für Merz nicht neu. Im Jahr 2000 – die SPD stellte damals wie heute den Kanzler - war der ambitionierte Konservative gerade Unionsfraktionschef geworden. „Es geht im Wesentlichen darum, dass die in Deutschland lebenden Ausländer bereit sind, sich einer deutschen Leitkultur anzuschließen“, rief er aus. Die Debatte über die „Leitkultur“ trieb einen Keil in seine Partei. Knapp 25 Jahre später appelliert Merz an SPD und Grüne, dem „Zustrombegrenzungsgesetz“ doch noch zuzustimmen. Man sei sich doch wohl darin einig, dass „der Zustrom“ von Asylsuchenden begrenzt werden müsse, sagt er.
Sechseinhalb Stunden nach der Sitzungsunterbrechung liegt das Ergebnis der namentlichen Abstimmung vor. Der Bundestag lehnt das Gesetz ab. Das Ergebnis ist knapp: 338 Abgeordnete stimmen mit Ja, 350 mit Nein. 733 Sitze hat das Parlament, an der Abstimmung nehmen (inklusive Enthaltungen) nur 693 Parlamentarier teil. Niemand hat gewonnen, niemand wirklich verloren. Praktische Auswirkungen hätte es das Gesetz ohnehin erst gehabt, wenn der Bundesrat zugestimmt hätte. Folgen für die gesellschaftliche Debatte jedoch wird es geben. Welche das sind, werden die nächsten Tage zeigen.
Und was bleibt von dieser Woche? Merz hat gezeigt, dass er bereit ist, für kleine politische Vorteile den demokratischen Grundkonsens in unserem Land aufs Spiel zu setzen. Was können wir von ihm erwarten, wenn es um Krieg oder Frieden oder Leben und Tod geht. Die AfD hat mit ihrem Feixen und ihrer Häme gegenüber der Union wieder gezeigt, wie sehr sie unser politisches System verachtet. Merz und Söder sollten sich das noch einmal in Ruhe ansehen, dann wissen sie, was sie (und uns alle) erwartet, wenn sie diesen Weg weitergehen.
Welchen "demokratischen Grundkonsens" meinen Sie genau? Den, daß SPD/Grüne im Hinblick auf die deutsche Einwanderungs- und Asylpraxis das Richtlinienmonopol haben? Oder den, daß Demokraten, die sich für demokratischer halten als andere, den Willen und das Stimmenpotential von 10% der gewählten Abgeordneten gefälligst zu ignorieren haben? Deren Feixen und Häme könnte man anstatt als "Verachtung unseres politischen Systems" auch als, wenngleich abstoßende und unprofessionelle, aber gewissermaßen nachvollziehbare Reaktion auf die vorausgegangene Art des gegenseitigen Umgangs miteinander deuten. Die Überzeugung, was der richtige Weg zum Erhalt des Friedens bzw. dessen Wiedererlangung in Europa ist, kann meiner persönlichen Erfahrung nach bei den Bürgern nicht immer eindeutig an der politischen Grundeinfärbung festgemacht werden. Hier geht die Spaltung teils quer durch alle möglichen Parteipräferenzen. Um so wichtiger sind hier m. E. transparente Entscheidungsprozesse.
Herr Ruga, es steht außer Frage, dass unser Zuwanderungsrecht an die gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden muss, aber nicht um den Preis, dass Deutschland von einer autoritären und antidemokratischen Partei regiert wird. Sollte die AfD einmal an die Macht kommen, droht Deutschland das Schicksal Ungarns. Solche Parteien gewinnen die Macht nur einmal. Die EU und Deutschland haben übrigens bereits deutliche Erfolge erzielt, wie der drastische Rückgang der Zuwanderung zeigt. Es geht aber nun vor allem darum, dass die Zusammenarbeit der Behörden besser wird. Die Mordtaten der letzten Zeit hätten allesamt verhindert werden können, wenn das bereits geltende Recht konsequent angewendet worden wäre. Dazu braucht es keine AfD.
Herr Leonhard, ich bin der Meinung, ein weiteres Erstarken der AfD verhindert man als konservative Partei wohl kaum damit, daß man deren Abgeordnete isoliert und sich stattdessen von Rot oder Grün zu Placebomaßnahmen erpressen läßt, sondern eher, indem man Handlungswillen demonstriert und hierzu gegebenenfalls auf Mehrheiten zurückgreift, die eben "nun mal da sind", um Frau Merkel zu zitieren. Ansonsten könnten noch mehr Wähler zum Schluß kommen, daß wer CDU wählt, letzendlich Rot/Grün bekommt. Vermutlich wollte Herr März genau dem Eindruck noch vor der Wahl vorbeugen, wenn auch nun mit zweifelhaftem Erfolg. Was die Arbeit der Behörden anbelangt, so hat das Bamf als Ursache für die gescheiterte Abschiebung des Attentäters von Aschaffenburg Überlastung angegeben, auch hier scheint die schiere Zahl an Asyl-Anwärtern also ursächlich für Fehler zu sein.
Der leichte (!) Rückgang der Zuwanderung ist m. E. weniger den Maßnahmen der EU oder gar Deutschlands anzurechnen, als denen einzelner Staaten, die genau das taten, was bei uns angeblich unmöglich ist: Eigenmächtig handeln. Die Grenzkontrollen, die Frau Faeser angeordnet hat, sind bspw. so ein Plazebo, denn wer Asyl begehrt, wird nach wie vor zur nächsten Aufnahmestelle gebracht, und nach wie vor bleiben die allermeisten abgelehnten hier. Sie haben insofern Recht, daß auch innerhalb geltenden Rechts schon eine viel restriktivere Politik möglich wäre. Hierzu fehlt aber der politische Wille. Und wenn den die möglichen Koalitionspartner der CDU nicht aufbringen dann brauchts für Veränderungen in dem Fall vielleicht doch die AfD.
Demokratischer Grundkonsens??? Zu einer parlamentarischen Demokratie gehört, daß alle gewählten Parteien abstimmen dürfen. Wie und mit oder gegen wen ist doch völlig unerheblich. Es ist doch schon nicht mehr erst seit dieser Woche absehrbar, daß künftig andere Parteien, als die, die sich selbt für besonders demokratisch halten, ein besonderes Wörtchen mitreden werden.
Der Publizist Michel Friedmann ist oft nervig, aber er ist ein kluger und anständiger Mann und nun nach 40 Jahren aus der CDU ausgetreten. Für ihn ist dieser Tabubruch unentschuldbar. Er sagt: "Die AfD ist nicht am Rande der Demokratie, sie ist außerhalb der Demokratie. Das weiß auch die CDU," Und er sagt: "Wenn die AfD einer Bundesregierung angehören würde, könnte ich hier nicht mehr leben. Dann müsste ich dieses Land - mein Land - verlassen. Und nicht nur ich." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Herr Boeldt, erklären sie doch, wie sie verhindern wollen, dass eine in Teilen rechtsextreme Partei an die Macht kommt. Eines dürfte mittlerweile doch völlig klar sein, dass eine AfD um so schneller an die Macht kommt um so mehr die rechtsradikalen Fantasien der AfD von anderen Parteien übernommen werden. Sagen sie es doch ganz offen wenn sie eine teilweise rechtsextreme Partei bevorzugen.
Herr Merk, ich denke, dem Herrn ist das schlicht egal. Er ist ein zynischer Fatalist und glaubt vom Ende der Demokratie nicht betroffen zu sein. Er könnte sich aber täuschen.
Herr Merk: 1. Mir ist klar, daß ich nichts verhindern kann bis auf äußerst eingeschränkt auf meinem Wahlzettel. 2. Die extremen Parteien, ich beschränke mich mal auf AfD, BSW und die LINKE, haben mikt ihrem Programm Deckungsmengen mit den sog etablierten Parteien, auch wenn diese Mengen vermutlich kleiner als 10%-20%, je nach dem, sind. Sollten diese Parteien in einer Koalition an die Regierung kommen wären sie nach heutiger Sicht höchstens ein Juniorpartner, bräuchten koalitionsintern Mehrheiten und könnten demzufolge sicherlich keine extremen Positionen durchsetzen. 3. Periculum non es in mora - zumindest für die nächsten 10 Jahre - und weiter lassen sich heute seriös keine Prognosen absetzen.
Ich weiß nicht, ob man die Aussagen von Herrn Boeldt noch ernst nehmen kann. Ich habe langsam das Gefühl, er geht einfach auf Opposition, egal worum es geht. Dieses Stadium kenne ich von den Teenagern in meinem Bekannten- und Verwandtenkreis. Hab ich auch so gemacht, als ich 16 war. Wer sehnt sich nicht ab und zu in seine Jugendzeit zurück? Ist ja verständlich.
Ich frage mich immer wieder, warum sehr viele dieser Kommentare die Meinung wiedergeben, dass die AfD an die Macht kommen würde. Dass bei zustimmenden Abstimmungsverhalten die Macht der AfD gestärkt würde und somit gleiche Zustände wie zu Zeiten vor dem 2. Weltkrieg herrschen würde? Hier wird doch etwas als Fakt angenommen, was in keiner Weise in diese Richtung zeigt; wenn alle verbleibenden Parteien sich demokratisch verhalten würden. Aber genau hier liegt doch das Problem! Verweigerungshaltung, Ablehnung, Ignoranz des politischen Willens usw. Merkt man eigentlich nicht, dass genau dieses Verhalten die Ansichten und Entscheidungen eines Teils der Bevölkerung noch verstärkt?
Herr Xanter, wollen sie jetzt im Ernst das unschuldige Schäfchen spielen? Wer soll ihnen denn das abnehmen bei ihren völkischen Vorstellungen. Die Bürger wollen keine in Teilen rechtsextreme Partei. Viele Fans der AfD leiden letztlich nur an ihrer unbegründeten Angst vor fremden Menschen. Schon vor 10.000 Jahren hat sich die Menschheit dorthin bewegt wo die Lebensbedingungen besser sind und das wird auch in 10.000 Jahren noch so sein. Wie anhand der Statistiken gesehen werden kann steigen die Zahlen von rechtsextremen Straftaten jedes Jahr erheblich an weil Angst besteht, die Fremden nehmen einem etwas weg, anstatt freiwillig zu teilen.
Wenn Sie noch nicht gemerkt haben, wes Geistes die AfD ist, dann sollten Sie sich einmal über die Gegebenheiten der späten 1920er und frühen 1930er Jahre informieren, und googeln Sie einfach mal "AfD und Andersdenkende" oder ähnliches. Ich könnte Ihnen hier zig Links präsentieren, aber ich denke, googeln können Sie selbst. Hier nur ein Link: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/anschlaege-auf-lokalpolitikerinnen-duesterer-ausblick-auf-den-wahlkampf-109119/ Und darum ist diese Partei ein NO GO für alle, die ein demokratisches Deutschland wollen. Alle anderen nehmen solche Umtriebe billigend in Kauf und verharmlosen eine Partei, die jetzt schon nicht zimperlich umgeht mit Menschen, die sich nicht auf ihre Seite sellen.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden