Die letzten Minuten vor der Entscheidung sind ja oft die härtesten: Eben haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestag ihre Stimmen abgegeben. Nun herrscht reges Treiben im Parlament. In kleinen Grüppchen wird Smalltalk gemacht. Hier wird gescherzt, dort wird diskutiert. Angela Merkel ist da, die Altkanzlerin. Markus Söder, der Chef der Schwesterpartei CSU, übrigens nicht. Er ist in München geblieben. Die Auszählung läuft. Oben auf der Tribüne unter der Reichstagskuppel wartet die Familie von Friedrich Merz.
Nach menschlichem Ermessen muss es reichen für ihn. CDU, CSU und SPD haben genug Stimmen, um ihn zum zehnten Bundeskanzler der Republik zu wählen. Und doch bleibt eine Ungewissheit, eine Anspannung. Wird es Abweichler in den eigenen Reihen geben? Wird es doch knapp?
Dann, um sechs Minuten nach 10 Uhr an diesem historischen Dienstagmorgen nehmen die Abgeordneten wieder Platz, die Reihen füllen sich, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner ergreift mit ernstem Blick das Wort. Die CDU-Politikerin verkündet das Ergebnis. Das Drama nimmt seinen Lauf.
Julia Klöckner verkündet das Ergebnis: Es reicht nicht für Merz
Nach all den gescheiterten Anläufen, nach all den Jahrzehnten in Wartestellung steht Friedrich Merz kurz vor dem Ziel. Dann die Überraschung: Es reicht nicht für ihn. Nur 310 Ja-Stimmen. Zu wenig. Ein Desaster. Merz steht konsterniert auf, verlässt fluchtartig den Saal. Oben seine Frau Charlotte Merz, versteinert. Betroffenheit auch in vielen anderen Gesichtern - und über allem die Frage: Wie konnte das passieren? Wer hat den CDU-Chef demontiert? Unzufriedene Unions-Leute? Oder doch Abgeordnete des potenziellen Koalitionspartners SPD?
Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte scheitert eine Kanzlerwahl
Bis zu 18 Abgeordnete aus dem schwarz-roten Lager haben in der geheimen Wahl ersten Analysen zufolge gegen Merz gestimmt. Und damit auch gegen das schwarz-rote Bündnis. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik scheitert eine Kanzlerwahl im ersten Anlauf. Es ist eine Katastrophe für Merz, aber auch für seinen Vizekanzler in spe, Lars Klingbeil. Offenbar hat der SPD-Chef seine Fraktion nicht restlos überzeugen können. Womöglich haben beide Parteichefs in den vergangenen Wochen zu viele Leute im eigenen Laden verprellt, nicht ernst genug genommen. Ganz rechts außen im Saal triumphieren die Abgeordneten der AfD.
Um 15.15 Uhr soll der zweite Wahlgang beginnen
Klöckner unterbricht die Sitzung erneut, wirkt selbst etwas ratlos, wie es nun weitergeht. Der Vorhang nach dem ersten Akt fällt. Schnell machen Spekulationen die Runde, ob es überhaupt einen weiteren Wahlgang am Dienstag geben wird. Sicher ist in diesen Momenten gar nichts. Erst nach Stunden steht fest: Merz bekommt eine zweite Chance. Noch am Dienstagnachmittag findet der zweite Wahlgang statt, wie Unionsfraktionschef Jens Spahn verkündete.

Selbst, wenn Merz dann bestehen sollte, wäre er als neuer Kanzler doch massiv beschädigt. Denn die Fragen bleiben: Sollte es nur ein Denkzettel sein oder wollte man den 69-jährigen Kanzleraspiranten tatsächlich endgültig zu Fall bringen? Der Zauber des neuen Anfangs ist jedenfalls dahin. Hinter den Kulissen geht es den ganzen Tag über hoch her. Die Fraktionen von Union und SPD waren schlecht vorbereitet auf ein solches Szenario. Es wurden hektisch Gespräche geführt. Die AfD forderte draußen vor den Türen schon Neuwahlen. Deutschland geriet völlig unerwartet in eine Regierungskrise. Der Bundeskanzler heißt zu diesem Zeitpunkt noch immer: Olaf Scholz.
Markus Söder zeigt sich betroffen: „Noch ist alles heilbar“
Mittags meldete sich Markus Söder aus München zu Wort. „Der heutige Vormittag zeigt, dass wir in einer ernsten Lage sind“, sagte der CSU-Chef. Er wirkte betroffen und warnte vor einem Schaden für die Demokratie. Es sei deshalb wichtig, keine Spielchen zu betreiben, keine Denkzettel zu verteilen. Man müsse nun cool bleiben. „Es ist jetzt der falsche Zeitpunkt, um zu streiten oder Schuldzuweisungen zu machen.“ Es gehe nicht um Einzelinteressen. „Noch ist alles lösbar, noch ist alles heilbar“, appellierte der bayerische Ministerpräsident vor der zweiten Runde an die Abweichler in den Reihen von Union und SPD im Bundestag.

Auch CSU-Landtagsfraktionschef Klaus Holetschek zeigte sich besorgt über die Vorgänge in Berlin. „Anscheinend ist sich nicht jeder Bundestagsabgeordnete der historischen Dimension seines Abstimmungsverhaltens bewusst. Verantwortung für unser Land sieht anders aus. Diejenigen, die das in der aktuellen Lage des Landes angerichtet haben, spielen mit dem Feuer“, sagte er unserer Redaktion und fügte mit einer Anspielung auf die Wahl eines neuen Papstes, die am Mittwoch beginnen soll, hinzu: „Noch ist alles lösbar. Manchmal braucht es für weißen Rauch auch einen zweiten Wahlgang.“
Um 17:32 Uhr legt Friedrich Merz den Amtseid ab
Dieser zweite Wahlgang wurde zur letzten Chance für Friedrich Merz, doch noch Bundeskanzler zu werden. Mehr als sechs Stunden nach der Verkündung der Blamage im ersten Versuch ergreift Bundestagspräsidentin Julia Klöckner erneut das Wort. Das Drama in zwei Akten geht dem großen Finale entgegen. 325 Stimmen für Friedrich Merz. Er ist am Ziel. Um 17:32 Uhr gab er den Amtseid im Bundestag ab. An jenem Ort, an dem sein Tag so bitter begonnen hatte. Oben auf der Tribüne: Seine Frau Charlotte Merz, strahlend.
Und ausgerechnet Markus Söder, der ja mit Merzens Kanzlerkandidatuer "fein" war, blieb dem Ganzen fern. Das lässt Platz für mancherlei Spekulationen. Selbstdarsteller Söder macht bekanntlich nichts ohne Grund. Wir werden bald sehen und uns dann nicht mehr wundern.
„Es ist jetzt der falsche Zeitpunkt, um zu streiten oder Schuldzuweisungen zu machen. Es gehe nicht um Einzelinteressen. " - und das sagt ausgerechnet der Söder - welch Ironie!
Ich denke dass dieses Macht Denken was sich bei Politikern aller Couleur schon lange eingeschlichen hat, solche Auswüchse beinhalten.. die Macht zu haben Anonym etwas zu verändern. In unserem Land kann jeder, egal aus welchen ( privat, beruflich ) Gründen einen denunzieren und es wird ihm geglaubt. Weil man immer einen Schuldigen parat hat. Es hat mich heute gefreut den Bundestag anzusehen, nicht nur der Intellekt, sondern auch die Kleidung aller zeigte dem Ort Respekt und das war lange nicht mehr so. Ich würde wenn ich Merz wäre wieder antreten und ich würden den Dummköpfen sagen, dass die Zeiten von Spielchen vorbei sind und ich ernsthafte Politik erwarte. Ich würden ihnen diesen grünen, ideologischen Zahn ziehen und erwarten dass sie hinter mir stehen. In einem Team und bei den Problemen in unserem Land braucht es alle die an einem Strang ziehen. Und das sollte auch mal bei den Bürgern ankommen, und die Hetze, der Hass nicht nur von Rechts, Links muss aufhören. Freiheit, Zukunft
"Ich würden ihnen diesen grünen, ideologischen Zahn ziehen…" Haben Sie die Rede der Grünen heute im Bundestag gehört, Frau Böhm? Wohl eher nicht, sonst würden sie nicht so einen Unsinn plappern!
Kann man das nicht als Misstrauensvotum gegen den (designierten) Kanzler Merz werten; mit den gleichen rechtlichen Konsequenzen wie bei einem im Amt befindlichen Kanzler. Persönlich kann ich die Enttäuschung nachempfinden, bin ich doch selbst vor Jahrzehnten auch mit einer vermeintlich sicheren Mehrheit im Marktgemeinderat nicht zum 2. Bürgermeister gewählt worden. (Beim abschließenden Losentscheid habe ich den Kürzeren gezogen, der Sieger wurde später Stellvertreter unseres Landrats und noch später Landtagsabgeordneter.) Heute bin ich mir sicher, es war rückschauend ein gutes Los – auch für mich. Insofern würde ich sehr empfehlen, Merz sollte nochmals überdenken, ob er sich und anderen eine erneute Kanzlerkandidatur antun will.
Unter cdu.de habe ich gerade unter Aktuelles zur Kanzlerwahl gefunden: „2. Wann findet der zweite Wahlgang statt? Ein zweiter Wahlgang findet binnen zwei Wochen nach dem ersten Wahlgang statt.“
Das bedauerliche an der Kanzlerwahl ist, dass sie geheim abläuft. Ein Volksvertreter sollte immer ein öffentlich Bekenntnis zu seiner politischen Haltung liefern, anstatt im geheimen irgendwelche taktischen Spielchen machen zu können. Ich versuche, dem ganzen noch etwas lustiges abzugewinnen. Die Wetten laufen, ob es zuerst einen neuen deutschen Bundeskanzler oder einen neuen Papst gibt.
Oh - das mit der offenen Wahl hatten wir schon mal. In der DDR war es jedem „freigestellt“, seinen Klassenstandpunkt dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass er seine Stimme in offener Wahl den „Kandidaten der Nationalen Front“ gab. Aber dahin will ja ganz bestimmt niemand zurück.
Ich denke, ich habe mich verständlich ausgedrückt. Nicht allgemeine Wahlen sollten öffentlich sein, sondern alle Abstimmungen, die in Parlamenten stattfinden. Der Abgeordnete stimmt als gewählter Volksvertreter mit politischer Verantwortung ab und nicht als eigennützige Privatperson. Es gibt keine Privatsphäre, die man schützen müsste.
Doch, der Abgeordnete ist in erster Linie seinem Gewissen verpflichtet. Wäre das nicht so, könnte man Avatare ins Parlament setzten. Als Abgeordneter ist man kein Stimmvieh, sondern kann selbstbestimmt abstimmen, egal welcher Partei man angehört. Merz ist leider keiner, der Menschen mitnehmen und schon gar nicht mitreißen kann. Dass dies erst jetzt klar wird, ist bedauerlich, das hätten die C-Parteien früher entdecken können. Aber bitte nicht Söder nachschieben.
Beim Sondervermögen bekommt man ein zweidrittel Mehrheit hin, weshalb dann nicht bei der Kanzlerwahl ebenfalls? Der Papst wird immer mit dieser Mehrheit gewählt, das ist jedenfalls demokratischer!
Hallo Frau Reichenauer Und diesem Kommentar von Ihnen möchte ich mich Wort für Wort anschließen.
Hier passt doch das Sprichwort: „Hochmut kommt vor dem Fall“ und das gilt für die Union und der SPD. Beide haben in den Koalitionen ihre Wähler verraten. Für mich ist es aber ein kostbarer Beweis, es gibt noch Politiker, die mit Anstand und Würde ihrem Gewissen folgen. Dankeschön dafür.
Es ist an der Zeit, dass das Wahlsystem in Deutschland geändert wird von Parteien- auf Personenwahl. Aber da haben viele Angst ihren Job zu verlieren und einige wären in der Vergangenheit gar nicht Kanzler*in geworden und heute hätte die Alice wohl mit 50+% gewonnen.
... en und heute hätte die Alice wohl mit 50+% gewonnen. ------------------ Die haette wohl (zu Recht) fuer eine rechtsextremistische Partei) gar nicht antreten duerfen. Und das mit den Parteien ist schon ok. Fuer eine laengerfristige Regierung kannman sich nicht auf einzelne Personen verlassen.
Eine steile These, die Sie da aufstellen, Herr Kraus. Ist da vielleicht eher der Wunsch der Vater des Gedanken? Ich darf Sie darauf hinweisen, dass 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler die sogenannte Alternative NICHT gewählt haben - und das hat seine sehr guten Gründe!
Lasst ihn schwätzen und träumen von seiner Alice im 50+% Wunderland...
ICh kann Sie schon verstehen, Herr Kraus, dass Ihnen ein Personenwahlrecht besser gefallen würde. Diese Forderung vertritt die AfD ja schon lange. Schließlich ist ein Einzelkämpfer viel besser steuerbar, man kann ihn bedrohen, man kann ihn unter Druck setzen, man kann ihn bestechen, man kann ih Honig ums Maul schmieren – das wäre ein Fest für die Leute, die unsere Demokratie ins Abseits führen möchten. Denn vor und nach der Wahl wäre für ihre kruden Ideen ein großes Hindernis ausgeräumt. Schließlich ist eine Gemeinschaft stärker als eine einzelne Person. Eine Partei ist nicht so leicht zu steuern, deswegen sollen die unliebsamen Zusammenschlüsse weg – ja, ich verstehe Sie gut, Ihre Absichten sind deutlich, aber Gott sei Dank nicht so einfach zu realisieren.
.......und 84% der Wähler haben die SPD NICHT gewählt und trotzdem stellen sie 7 Minister??
Das nennt sich Koalition und ist im Wahlrecht bzw. Grundgesetz so angelegt um unsere Demokratie handlungsfähig zu gestalten. Man muss natürlich schon ein bißchen miteinander können, aufeinander zugehen und kompromissbereit sein - wie im richtigen Leben auch. Aber wenn halt im großen Sandkasten der Demokratie keiner mit der sogenannten Alternative spielen will....
....und 94% der Wähler haben die CSU NICHT gewählt und trotzdem stellen si 3 Minister??
Es ist ein Denkzettel für einen künftigen Kanzler, der seinen Parteigenossen gegenüber sehr forsch auftritt, oft unbeherrscht reagiert und der sich mit Kompromissen schwer tut. ICh hätte mir gewünscht, dass die C-Parteien, wenn man sie schon 4 jJahre an der Regierung sehen muss, einen Kanzlerkandidaten aufstellen, der die Menschen wieder zusammenführt. Stattdessen hat ein Spaltelement nur seinen Lebenstraum verfolgt. Aber wie gesagt, es ist ein Denkzettel, die weiteren Wahlgänge werden zeigen, wie es weitergeht. Ich denke, man wird sich zusammenraufen und die Koalition wird nicht daran zerbrechen, aber es ist ein Schuss vor den Bug für Merz, der noch viel lernen muss, wenn es um Regierungsverantwortung geht.
Guter Komentar. Da scheint mir viel wahres dran. Insbesondere ein Spaltpilz als Kanzler ist nur schwer zu ertragen.
Ich bin ja kein Freund von Herrn Merz und der Meinung, dass die CDU definitiv einen besseren Kandidaten hätte haben können. Neben einer gewissen Schadenfreude bin ich aber viel mehr besorgt über dieses Verhalten einiger Abgeordneter. Das ist ein brandgefährliches Spiel, von dem sehr schnell die nicht demokratischen Parteien profitieren können. Was erhofft man sich?
Damit hat sich die Koalition keinen Gefallen getan. Sie wird nicht zerbrechen, aber es wird ihr die gesamte Legislatuperiode, wie lange sie auch sein wird, stark nachhängen. Dessen waren sich wohl einige Abgeordnete nicht bewusst.
Es bleibt die bittere Feststellung, dass es zum Desaster keine Ränder braucht. Die demokratische Mitte, wie sich sich gerne nennt, zerlegt sich gerade selbst. Der Schulden- und Rüstungswahnsinn treibt seltsame Blüten. Glaubwürdiges Personal und ein grundlegender Politikwechsel hin zu wirtschaftlicher und sozialer Vernunft, Abrüstungs- und Friedenspolitik und eine humane und konsequente Migrationspolitik sind das Gebot der Stunde. Die rechten Demagogen reiben sich ungeniert die Hände ob dieses Trauerspiels.
Nach dem Spektakel nach der Wahl kommt das Ergebnis nicht wirklich überraschend.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden