Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Schwarz-Rot will weniger Flüchtlinge im Land haben - aber es gibt trotzdem Menschen, die sich kümmern

Asylpolitik

Zu Besuch im Notaufnahmelager, wo Kriege und Religion keine Rolle mehr spielen

    • |
    • |
    • |
    Im ehemaligen Notaufnahmelager Marienfelde e.V. treffen sich regelmäßig die Teilnehmer des Sprachcafés.
    Im ehemaligen Notaufnahmelager Marienfelde e.V. treffen sich regelmäßig die Teilnehmer des Sprachcafés. Foto: Ralf Hirschberger, dpa

    Den Freitag nennen sie hier Freutag. Denn dann treffen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Sprachcafés im Sonderausstellungsraum der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Es ist ein heller Raum in einem historischen Bau aus den 1950er Jahren, der von außen eher unscheinbar wirkt. Drinnen steht ein großer Tisch, auf dem Kaffee, Kekse und eine Packung Schokolade angerichtet sind.

    In der Mitte sitzt ein Mann mit ruhiger Ausstrahlung und aufmerksamem Blick. Ismail Al-Bassimi kam bereits in den 1970er Jahren zum Studium nach Berlin, kehrte später nach Syrien zurück. Jahrzehnte danach zwang ihn der Krieg zur Flucht – er kam zurück nach Deutschland. 2016 gründete er gemeinsam mit Nachbarinnen und Nachbarn ein Sprachcafé. Hier wird über tagesaktuelle Themen diskutiert, gemeinsam gesungen oder gekocht. Ziel ist es, einen Raum zu schaffen, in dem sich Menschen begegnen, voneinander lernen und ohne Lernprogramm Deutsch üben können.

    Aktuell leben 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Etwa ein Drittel davon sind in den vergangenen zehn Jahren eingewandert. Der Anteil dieser Gruppe an der Bevölkerung stieg 2024 um knapp einen Prozentpunkt auf 25,6 Prozent, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) kürzlich mitteilte.

    So geht es Geflüchteten in Berlin aus Afghanistan und anderen Ländern

    Von 12 bis 14 Uhr kommen die Gäste am „Freutag“ aus der Nachbarschaft zusammen – unabhängig von Alter, Herkunft oder Religion. Die Türen stehen allen offen. Bei Tee und Gebäck sprechen sie über Gott und die Welt – mal ernst, mal mit Witz. „Es ist alles spielerisch eingebettet mit Humor, mit Leichtigkeit“, sagt Gülşah Stapel, die das Projekt leitet. Die Vielfalt der Runde bringt sie selbst zum Schmunzeln: „Es ist wie ein Klischee in einem Film, wie man Diversität denkt. Eine blinde Frau, aus Syrien ein Christ, ein Alevit und eine Kurdin, jemand aus Äthiopien, aus Afghanistan. Und Deutsche. “

    „Ich bin Abdul Latif, ich komme aus Afghanistan“ – ein lautes, anerkennendes Klopfen ertönt. Die Treffen beginnen oft mit einer kleinen Vorstellungsrunde. Neue Teilnehmer stellen sich vor, die Gruppe begrüßt sie gemeinsam. Es ist ein kleines Ritual, das Nähe schafft. „Ich bin sehr froh, dass ich euch kennengelernt habe. Es ist eine sehr schöne Zeit hier“, sagt eine Frau. Die Atmosphäre ist gelöst und familiär. Es wird viel gelacht, gelegentlich wird jemand liebevoll geneckt. Für die Projektleiterin ist entscheidend: Jeder zählt hier. Es gehe darum, einander als Menschen zu begegnen und Konflikte aus Herkunftsländern nicht auf Einzelpersonen zu projizieren.

    Menschen helfen Menschen: Der Bedarf für Unterstützung von Asylsuchenden ist hoch

    Die Idee zum Sprachcafé entstand 2016 im Rahmen des Programms BENN (Berlin Entwickelt Neue Nachbarschaften). In dieser Zeit kamen viele Geflüchtete nach Deutschland. Ismail Al-Bassimi und andere Nachbarn merkten, wie groß der Bedarf war. Menschen kannten weder die Sprache noch lokale Gewohnheiten und suchten Anschluss. Mit BENN begann das Projekt in der Stadtteilbibliothek. Als 2021 die Förderung endete, übernahm Gülşah Stapel die Verantwortung und brachte das Sprachcafé in die Erinnerungsstätte. Anfangs leitete und finanzierte sie das Projekt selbst, mittlerweile unterstützt der Förderverein der Gedenkstätte die Arbeit.

    Wie lebendig die Treffen sind, zeigt sich oft in einzelnen Momenten. Eine Teilnehmerin ist Angela, eine blinde Frau, die regelmäßig teilnimmt. Manchmal holt sie ihre Gitarre raus und singt mit der Gruppe. Ihre Präsenz verändert die Dynamik im besten Sinne. „Da ist etwas, wo sie auch helfen können, und wir lernen ganz viel über die Sprache der Blinden durch sie“, sagt Stapel.

    Übergangswohnheim für Geflüchtete

    Der Ort, an dem sich das Sprachcafé heute befindet, hat eine besondere Geschichte. Zwischen 1953 und 1990 war das Notaufnahmelager Marienfelde die erste Station für über 1,35 Millionen Geflüchtete aus der DDR sowie für Aussiedlerinnen und Aussiedler aus Osteuropa. Heute befindet sich dort eine Erinnerungs- und Bildungsstätte, die Flucht- und Migrationsgeschichten dokumentiert – früher wie heute. In direkter Nachbarschaft liegt ein Übergangswohnheim für Geflüchtete.

    Das Café ist Teil dieses Konzepts. Es bringt Menschen zusammen, deren Geschichten oft von Flucht und Aufbruch handeln. Damit fügt es sich auf besondere Art und Weise in die Gedenkstätte ein. Für viele war Marienfelde ein Ort des Neuanfangs. Genau das ist es heute wieder. Im Sprachcafé entstehen Begegnungen, manchmal auch Freundschaften. Hier wird füreinander gesorgt, zugehört – und gelernt, mit Unterschiedlichkeit umzugehen. Projektleiterin Gülşah Stapel wünscht sich mehr solcher Räume. Denn oft ist der Alltag für Geflüchtete von Einsamkeit geprägt. Es fehlt an geschützten Orten für Austausch und Teilhabe. Das Sprachcafé bietet genau einen solchen Raum.

    Am Ende des Treffens stehen einige bereits auf, räumen Tassen zusammen, verabschieden sich. Ein letzter Klopfer auf den Tisch: „Bis nächste Woche!“

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden