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Israel nach dem Hamas-Massaker: Ein traumatisiertes und gespaltenes Land

Beklemmende Enge: Auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv haben Angehörige einen Terrortunnel der Hamas nachgebaut
Foto: Rudi Wais
Israel

Unterwegs in einem verstörten Land

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    An wenigen Orten in Israel ist der Krieg so nah – und gleichzeitig doch so fern. In Sichtweite einer großen Kreuzung, nur zwölf Autominuten von der Grenze zum Gazastreifen entfernt, hat Dror Tabelsi mit seinen Brüdern Kobi und Eliran einen provisorischen Wellnesstempel eröffnet. Soldatinnen und Soldaten, die gerade von einem Einsatz aus Gaza kommen oder auf dem Weg dorthin sind, erhalten bei ihm ein warmes Essen, frische Unterwäsche und bei Bedarf auch die schmalen Tefilin, die jüdischen Gebetsriemen. An diesem Nachmittag lässt sich eine Soldatin gerade die verspannten Schultern massieren, drei ihrer Kameraden sitzen rauchend in einer Art Schaukel, einen Becher Kaffee in der Hand, die Maschinenpistolen lässig über die Schulter gehängt. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, während Dror Tabelsi die Geschichte seines ungewöhnlichen, für Israel aber durchaus typischen Hilfsprojektes erzählt.

    Begonnen hat alles mit einem Klapptisch und ein paar Snacks für die Soldaten. Dror, 30 Jahre alt und selbst vier Jahre in der Armee, stammt aus Shuva, einem Dorf, in dessen Nähe die Armee nach den Massakern des 7. Oktober 2023 ein Feldlazarett und einen Hubschrauberlandeplatz eingerichtet hatte. Schon bald versorgten die Shuva-Brüder, wie sie sich nennen, dort mehrere Hundert Soldaten am Tag, in Spitzenzeiten sogar 3000 – alles finanziert aus Spenden und organisiert von Freiwilligen. „Ich will das nicht mein Leben lang machen“, sagt Dror. „Aber im Moment ist es mein Leben.“ Seine Kantinenbaracke mit angeschlossenem Wäschelager, dem kleinen Bücherregal und dem Vogelkäfig, der unterm Dach hängt, ist rund um die Uhr geöffnet. „Bei uns gibt es das beste Essen in der ganzen Gegend“, behauptet Dror stolz. Der junger Rekrut, der neben ihm sitzt, nickt zustimmend.

    Eine Oase der Ruhe kurz vor der Grenze zu Gaza: Eine Freiwillige massiert eine israelische Soldatin.
    Eine Oase der Ruhe kurz vor der Grenze zu Gaza: Eine Freiwillige massiert eine israelische Soldatin. Foto: Rudi Wais

    Helfen um des Helfens willen: Gut eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn und mitten in einer erregten Debatte um das Vorgehen seiner Armee in Gaza ist Israel ein politisch gespaltenes Land, ein verstörtes und traumatisiertes, aber auch eines, das im Zweifel zusammenhält. Die Tabelsi-Brüder haben eine Oase der Ruhe kurz vor der Front geschaffen, andere Initiativen sammeln Geld für die Familien, die aus den Kibbuzim an der Grenze fliehen mussten, wieder andere kaufen Berge von Verbandsmaterial zusammen, weil das in der Armee allmählich knapp wird. „Keiner von uns wird für irgendetwas bezahlt“, beteuert Dror. Alle Helfer eine vor allem ein Gedanke: „Wir haben nur dieses eine Land.“

    Helfen um des Helfen willens: Dror Tabelsi
    Helfen um des Helfen willens: Dror Tabelsi Foto: Rudi Wais

    Erst die Pandemie – und jetzt der Krieg. Kaum eine Familie, die nicht betroffen ist, sei es, weil Angehörige entführt oder ermordet wurden, sei es, weil ihre Häuser zerstört wurden, sei es, weil Söhne und Töchter, Enkelinnen und Enkel, zur Armee eingezogen wurden. Eine dieser Familien ist die von Ruchie Avital, einer resoluten älteren Dame, die noch als Übersetzerin arbeitet und eines Abends wie beiläufig erzählt: „Mein Enkel sitzt gerade in Gaza in einem Panzer.“ Und ihr Sohn, 52 Jahre alt und Reservist, habe sich gerade wieder zum Dienst gemeldet. Die Familie von Johannes Guanin, in Tübingen geboren und vor 25 Jahren nach Israel ausgewandert, hat ähnliche Sorgen. Er selbst arbeitet für den jüdischen Nationalfonds, der auf dem Gelände des Nova-Festivals einen Ort des Erinnerns schaffen will. Nicht weit davon entfernt kämpft einer seiner Söhne im Gazastreifen.

    Eine Besuchergruppe singt die Nationalhymne

    Mehr als 300 feiernde junge Menschen metzelten die Terroristen der Hamas auf dem Festivalgelände nieder. Einige Angehörige der Toten kommen seitdem jeden Tag hierher, um ihre Trauer und ihren Schmerz zu verarbeiten, dazu Nachfahren von Holocaust-Opfern, Soldaten, Schulklassen, Pfadfinder. „Es gibt hier viel zu erzählen“, sagt Guanin. Irgendwann soll auf dem Gelände ein Museum entstehen. Bisher erinnern vor allem Fotos der Getöteten an ihr Schicksal. Und mittendrin: Eine Besuchergruppe, die die Hatikva singt, die israelische Nationalhymne - ob aus Stolz oder Trotz, ist nicht so ganz klar, ein ergreifender Moment aber ist es so oder so.

    58 Geiseln hat die Hamas noch in ihrer Gewalt, 20 von ihnen sollen noch am Leben sein. Wie aber bekommt Israel sie frei? Smardar Caspi, eine Lehrerin aus Ramat Gan bei Tel Aviv, ist eine fröhliche, zupackende Frau und gerade erst Großmutter geworden. Sie vertraut der Politik von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der für sein hartes Vorgehen in Gaza international scharf kritisiert wird. Die Wunden, die der 7. Oktober gerissen hat, könnten erst zu heilen beginnen, wenn alle Geiseln zurück seien, sagt sie – und dafür kämpfe „Bibi“, wie die Israelis Netanjahu nennen. An diesem Abend hat Smardar einen alten Freund eingeladen, den Manager Carmi Sternberg, dessen Herz im Gegensatz zu ihrem stramm links schlägt. Er ist ein Anhänger der Meretz-Partei, die man in Deutschland am ehesten mit der Linken vergleichen kann, er hält Netanjahu für einen Kriegstreiber und eine Waffenruhe für die einzige Möglichkeit, die Geiseln freizubekommen. Danach, sagt allerdings auch er, könne die Armee mit der Hamas machen, was sie wolle. Zwei Freunde, zwei Meinungen - ein Ziel.

    Last man standing: Lior Bez war bei der Armee und beim Geheimdienst. Sein Dorf hat er auch während der Hisbollah-Angriffe nicht verlassen. Direkt hinter ihm: Der Grenzzaun zum Libanon.
    Last man standing: Lior Bez war bei der Armee und beim Geheimdienst. Sein Dorf hat er auch während der Hisbollah-Angriffe nicht verlassen. Direkt hinter ihm: Der Grenzzaun zum Libanon. Foto: Rudi Wais

    In Metula im nördlichsten Zipfel Israels ist die Hisbollah das, was für die Menschen im Süden die Hamas ist: eine ständige Bedrohung. Von drei Seiten ist das Dorf vom Libanon umschlossen. Lior Bez, dessen Familie seit Generationen hier lebt, hat in der Armee gedient und zwölf Jahre für den Geheimdienst Shin Bet gearbeitet. Inzwischen ist der 51-jährige Kommandeur eines Notfallteams. Als die Menschen aus Metula vor den Raketen der Hisbollah flohen, verschanzte er sich in seinem Haus und schaltete den Strom ab, damit nur ja kein Licht die Terrormiliz auf ihn aufmerksam mache, die Waffe stets griffbereit. Wie viele Raketen über ihn hinweg flogen, hat er nicht gezählt. „Es waren die härteste Zeit meines Lebens“, sagt er. Und wie in den Kibbuzim an der Grenze zum Gazastreifen kehren die Bewohner auch nach Metula nur langsam zurück. Wenn überhaupt. Einer seiner Freunde, erzählt Lior, sei eigentlich schon auf dem Sprung. „Aber seine Frau will nicht – und ich verstehe das auch.“

    Früher, erinnert sich Lior, sei man von Metula aus zum Einkaufen in den Libanon gefahren und viele Libanesen seien zum Arbeiten nach Israel gependelt. „Bis die Hisbollah kam.“ Immer näher rückte sie an den Grenzzaun heran, grub Tunnel darunter hindurch, lagerte Berge von Waffen ein und feuerte immer wieder auch auf Metula. Unten, im Ort, hat es auch das Haus von Liors Cousin getroffen. Gleich um die Ecke steht ein ausgebranntes Auto. Ebenfalls ein Raketentreffer. Zwar gilt die Hisbollah inzwischen als militärisch besiegt. „Aber wir sehen sie noch immer“, sagt Lior, zeigt von einem kleinen Aussichtspunkt über dem Ort auf eine Stellung der Miliz - und zieht wie zum Beweis ein Stück einer Katjuscha-Rakete aus der Tasche, als traue er der Ruhe nicht, die gerade über dem Dorf liegt. Nur ein paar Kilometer weiter, in Madschal Schams, hat eine solche Rakete zwölf Kinder beim Fußballspielen getötet, vier von ihnen aus einer einzigen Familie stammend. Ihre Fahrräder und Tretroller liegen noch neben dem Platz, stumme Zeugen eines unschuldigen Todes.

    Neue Initiativen machen sich für eine neue Politik stark

    Politisch ist Israels Situation mit verfahren noch freundlich umschrieben. Hier Netanjahu mit seinen rechtsreligiösen bis rechtsradikalen Koalitionspartnern – dort die zersplitterten und zerstrittenen Parteien der Linken und der Mitte. Langsam erst gedeiht hier Neues - Sarit Golan zum Beispiel, Rechtsanwältin und zweite Bürgermeisterin in der Hafenstadt Haifa, hat nicht nur Tonnen von Hilfsgütern für die Soldaten im Einsatz gesammelt, sie arbeitet als parteilose Politikerin mit einigen Gleichgesinnten auch an einem „New Deal“, einer Bewegung, aus der vielleicht einmal eine Partei wird. „Unsere Opposition im Parlament ist zu schwach“, sagt die 50-jährige, die sich selbst als Mitte-Links-Pragmatikerin bezeichnet und damit nicht allzu weit von dem entfernt ist, was eine Gruppierung namens „the fourth quarter“ anstrebt, übersetzt: das vierte Quartal, angelehnt an einen Satz von Staatsgründer David Ben-Gurion, der auf die Frage nach Israels Zukunft einst gesagt hat: „Fragen sie mich in 75 Jahren noch einmal.“ Diese 75 Jahre sind inzwischen um, das vierte, womöglich entscheidende Quartal des ersten israelischen Jahrhunderts hat begonnen.

    Eine Vorkämpferin dieser Graswurzelbewegung, Lilach Assael-Haim, sitzt an einem Abend im Mai in der Wohnung von Freunden in Jerusalem und beklagt wie Sarit Golan den politischen Stillstand. „Wir sind militärisch und ökonomisch erfolgreich“, sagt sie. „Aber wir stecken eben auch in einer sozialen Krise.“ Ihre Antworten auf die Frage, was sich ändern muss, sind noch reichlich vage, von einer Demokratie der Lösungen ist da die Rede anstelle einer Demokratie des Gewinnen-Wollens, von einer neuen Bescheidenheit und mehr Demut dem Wähler gegenüber. Allerdings hat auch das „vierte Quartal“ noch nicht entschieden, ob es zur nächsten Wahl antreten wird. Und wie über so vielen Gesprächen in diesen Wochen liegt auch bei denen über das neue Israel ein Schatten: Ein Sohn von Sarit Golan dient gerade in Gaza.

    Lebt er noch? Orly Chen, die Tante von Itay Chen hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
    Lebt er noch? Orly Chen, die Tante von Itay Chen hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Foto: Rudi Wais

    Linke wie Rechte, Junge wie Alte, Orthodoxe wie Säkulare verbindet gleichwohl die Sorge um die Geiseln. Auf dem Platz vor dem Kunstmuseum in Tel Aviv, längst umgetauft in „Platz der Geiseln“, haben ihre Familien einen Terrortunnel nachgebaut. Daneben zählt eine Uhr die Stunden, die Minuten und die Sekunden, die seit der Entführung vergangen sind, und an jedem Samstagabend demonstrieren Tausende von Angehörigen und Unterstützern für die Freilassung der Geiseln. Eine von ihnen ist Orly Chen, deren Neffe Itay noch in Gaza ist, vermutlich schon tot, vermutlich schon seit mehr als einem Jahr. Das jedenfalls, sagt sie, ließen Erkenntnisse der Geheimdienste vermuten. Die Hoffnung aber stirbt zuletzt. „Wir haben nichts von ihm“, sagt Orly Chen. Niemand habe Itay gesehen, niemand wisse etwas Genaues. „Deshalb glauben wir, dass er vielleicht noch am Leben sein könnte.“ Und falls nicht, fügt sie dann noch leise hinzu, wolle die Familie ihn wenigstens beerdigen können.

    Die Demonstrationen, bei denen längst nicht mehr klar ist, wer hier gegen Netanjahu demonstriert und wer für die Freilassung der Geiseln, geben den Angehörigen Halt und verleihen ihren Forderungen Aufmerksamkeit. Die Wut auf die Hamas mischt sich hier mit der Wut auf die Regierung zu einer beklemmenden Melange. Viel erreicht aber haben die Demonstranten bisher nicht. „Wir schlafen schlecht und wir essen zu wenig“, sagt Orly Chen. „Unsere Seelen sind leer.“

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    3 Kommentare
    Raimund Kamm

    "Unterwegs in einem verstörten Land" Wann endlich schaut sich die Augsburger Allgemeine auch die Lage der Palästinenser im besetzten Westjordanland und im barbarisch angegriffenen Gazastreifen an? Raimund Kamm

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    Esther Lewit

    Das Gegenteil ist doch der Fall: nach all den Artikeln über die Lage in Gaza endlich einmal ein Bericht, der die derzeitige Situation in Israel beleuchtet.

    Maria Reichenauer

    Angesichts der Lage im Gaza ist dieser Bericht von Rudi Wais ein Schlag ins Gesicht für die notleidende Bevölkerung im Gaza. Während Dror das "beste Essen" lobt, verhungern im Gaza Kinder, sterben Menschen, werden Kinder, sogar Babies, verstümmelt, weil sie am falschen Ort geboren worden sind. Und Israel zuckt nicht einmal mit dem kleinen Finger, um die Lage zu verbessern, im Gegenteil, es behindert und bedroht Hilfslieferungen und Hilfskräfte. Die Welt muss Hilfsgüter mobilisieren - und nebendran gibt es das "beste Essen" weit und breit. Ich bin wirklich entsetzt.

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