Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Der Kibbuz Kfar Aza in Israel: Ein Paradies, das zur Hölle wurde

Israel

Das zertrümmerte Paradies: Wie Menschen in Israel versuchen, ihren Kibbuz wieder aufzubauen

    • |
    • |
    • |
    Ein Bild der Verwüstung: Im Kibbuz Kfar Aza kommen die Aufräumarbeiten nur mühsam voran
    Ein Bild der Verwüstung: Im Kibbuz Kfar Aza kommen die Aufräumarbeiten nur mühsam voran Foto: Rudi Wais

    Das Paradies, das zur Hölle wurde, ist heute ein Geisterdorf. Ralph Lewinsohn zeigt auf einen Baum, unter dem ein halbes Surfbrett wie ein Grabstein in den Boden gepflanzt ist, davor zwei kleine, schon erloschene Kerzen. „Hier haben sie einen Freund von mir ermordet, einen begeisterten Surfer“, sagt er. Gleich daneben starb ein ehemaliger Kollege in seinem Auto, das von 50 Kugeln durchsiebt wurde. „Und da drüben“, erzählt Lewinsohn im Vorbeigehen, „haben die Terroristen erst einen jungen Mann erschossen, einen Tag nach seinem 21. Geburtstag, und danach eine alte Frau“. Insgesamt starben in Kfar Aza, einem Kibbuz im Südwesten Israels, am 7. Oktober 2023 mehr als 60 Menschen, bestialisch hingerichtet von den Todesschwadronen der Hamas. Zurück in den Alltag aber findet Kfar Aza, einer von so vielen Schauplätzen des Grauens in Israel, auch 19 Monate nach dem größten Judenmord seit der Shoa noch nicht. 

    Nur sieben Einwohner sind bisher zurückgekehrt

    Ralph Lewinsohn lebt seit 44 Jahren hier – genauer gesagt: Er lebte. Wie alle Kibbuzniks musste auch er nach den Angriffen sein Zuhause verlassen. Von den mehr als 900 Einwohnern des Dorfes sind bisher nur sieben zurückgekehrt, darunter Lewinsohns Sohn Alon. Zu stark und zu belastend sind die Erinnerungen an die Massaker für viele, zu groß die Traumata, zu zerstört viele Häuser auch. An der Bushaltestelle neben dem neuen Bunker hält deshalb noch immer kein Bus. Die Krankenstation, das Schwimmbad und der Speisesaal sind verwaist, auch der Kindergarten hat noch geschlossen. Im Moment gibt es keine Kinder in Kfar Aza. Wie auch? Immer wieder unterbricht Artilleriefeuer aus dem keine zwei Kilometer entfernten Gazastreifen die gespenstische Ruhe, die über dem Ort liegt, dazu das dunkle Surren der Drohnen, mit denen die israelische Armee die Grenze überwacht: Eine behütete Kindheit sieht auch im kriegs- und krisenerprobten Israel anders aus. 

    Ein Surfbrett als Denkmal: Erinnerung an einen passionierten Surfer, ermordet von der Hamas.
    Ein Surfbrett als Denkmal: Erinnerung an einen passionierten Surfer, ermordet von der Hamas. Foto: Rudi Wais

    Maximal 15 Sekunden haben die Menschen in Kfar Aza Zeit, sich in einen Schutzraum zu flüchten, wenn die Hamas ihre Raketen auf sie feuert. Lewinsohn und seine Frau hatten an jenem 7. Oktober noch Glück im Unglück: Sie wurden nach 24 Stunden im Bunker von Soldaten der israelischen Armee gerettet und zu einem Sammelpunkt an einer nahegelegenen Tankstelle gebracht. Den kurzen Weg dahin nennt Lewinsohn heute den Todesmarsch – nicht, weil sie wie Tausende von KZ-Häftlingen in den letzten Kriegstagen dem sicheren Tod entgegengingen, sondern weil links und rechts von ihnen so viele Tote lagen.

    Geschätzte 300 Terroristen fielen an Israels Schicksalstag gegen sieben Uhr morgens in Kfar Aza ein und erschossen als einen der ersten Ofir Libstein, der immer so stolz war auf seinen bunten, fröhlichen Kibbuz, auf das Musikfestival, das er einmal im Jahr für israelische und arabische Jugendliche organisierte und auf das gute Miteinander im Dorf. Im Gespräch mit einer Gruppe deutscher Journalisten beschrieb der damalige Bürgermeister das vor einigen Jahren noch so: „Zu 95 Prozent ist Kfar Aza das Paradies, zu fünf Prozent ist es die Hölle.“ In der Hölle des 7. Oktober eilte der inzwischen zu einer Art Landrat aufgestiegene Libstein gerade zur Waffenkammer des Dorfes, als ein Heckenschütze der Hamas ihn entdeckte und sofort zu feuern begann. Nur einen Tag nach seinem Begräbnis erschütterte dann die nächste Todesnachricht die Familie. Unter den vielen Toten, die erst noch identifiziert werden mussten, war auch Libsteins Sohn Nitzan. Die Hoffnung, er könnte womöglich unter den Geiseln in Gaza sein und noch leben, währte nicht lange. Einer der gefangen genommenen Terroristen bestätigte später in einem Verhör, sie hätten einen klaren Auftrag gehabt: „Tötet jeden, den ihr seht.“ Auch Libsteins Schwiegermutter fiel dem Massaker zum Opfer. 

    Lebt seit 44 Jahren in Kfar Aza: Ralph Lewinsohn
    Lebt seit 44 Jahren in Kfar Aza: Ralph Lewinsohn Foto: Rudi Wais

    Seit mehr als einem Jahr versuchen junge Freiwillige, Kfar Aza wieder aufzubauen, nachdem es dort monatelang keinen Strom und kein Wasser gegeben hatte. Sie bessern die Löcher notdürftig aus, die die Granaten der Hamas auf den Straßen gerissen haben, sie räumen noch immer Berge von Schutt weg, sie streichen die ersten Häuser neu und pflanzen Bäume entlang der schmalen Wege. Wie aber soll ein Ort mit dieser Geschichte jemals wieder in einen halbwegs normalen Alltag zurückfinden? Können die Menschen sich hier jemals wieder sicher fühlen, zumal der Krieg ja nicht zu Ende ist?

    Noch immer hält die Hamas Kibbuzniks aus Kfar Aza gefangen

    Noch immer hat die Hamas zwei Kibbuzniks aus Kfar Aza in ihrer Gewalt – die Zwillinge Gali und Ziv Berman, die beide auch einen deutschen Pass haben. Das letzte Lebenszeichen von ihnen ist bereits ein halbes Jahr alt, als eine inzwischen freigelassene Geisel sie kurz im weit verzweigten Tunnelsystem der Hamas unter dem Küstenstreifen gesehen hat. „Mehr weiß man nicht“, sagt Ralph Lewinsohn, der gleich neben den Bermans gewohnt hat. Er selbst will anders als ihre Mutter Talia Berman auf jeden Fall zurück, bis dahin führt er gelegentlich Besucher durch Kfar Aza, unterdrückt seine Trauer und seine Wut auf die Terroristen dabei aber – und erzählt stattdessen in schockierender Nüchternheit von den Gräueln des 7. Oktober, als referiere er hier über etwas, das ihn persönlich gar nicht betreffe „Meine Gefühle tun nichts zur Sache“, sagt er, darauf angesprochen. „Aber die Welt muss wissen, was hier passiert ist.“ Und ja, man müsse in Kfar Aza noch immer mit allem rechnen. „Gleich da drüben“, fügt er dann noch hinzu, „ist der nächste Schutzraum – falls ein Alarm losgeht.“ Auch die Einfahrt zum Kibbuz wird noch immer von bewaffneten Posten bewacht.

    Lewinsohn hat wie die Bermans und einige andere Familien in Kfar Aza deutsche Wurzeln. Sein Vater, ein Kürschner aus Gera, floh vor den Nazis 1938 nach Namibia. Seine Mutter stammte aus Halle. Er selbst kam 1977 nach Israel, wo er vor allem als Fremdenführer gearbeitet hat – eine sehr jüdische Biografie und in seinem Fall zumindest eine mit glücklichem Ausgang. Sowohl seine Tochter als auch sein Sohn überlebten den 7. Oktober mit ihren Familien. Tochter Michal wähnten die Eltern eigentlich schon unter den Toten, bis sie sich Stunden nach dem Angriff mit einer Handy-Nachricht meldete: „Ich bin am Leben. Ihr auch?“ Eine Einheit israelischer Polizisten hatte mehrere Angreifer der Hamas ausgeschaltet, kurz bevor diese Michals Haus stürmen konnten. Heute sagt Lewinsohn: „Das war für uns ein zweiter Geburtstag.“ 

    Der Kreis mit dem roten Punkt signalisierte den Helfern nach dem Massaker: In diesem Haus liegen Tote.
    Der Kreis mit dem roten Punkt signalisierte den Helfern nach dem Massaker: In diesem Haus liegen Tote. Foto: Rudi Wais

    Die Wunden, die der Angriff in den Seelen der Menschen gerissen hat, verheilen allerdings nur langsam. Sehr langsam. Und viele Narben werden bleiben. Kaum einer in Kfar Aza und den benachbarten Dörfern, der (oder die) nicht mit schweren traumatischen Erfahrungen kämpft. Lewinsohns Tochter war erst vor zwei Monaten so weit, dass sie wieder zur Arbeit gehen konnte, eine der Enkelinnen des 73-Jährigen hat noch immer Panikattacken und fiel monatelang immer wieder in Ohnmacht – wie starr vor Angst. „Langsam wird es etwas besser“, sagt ihr Großvater. Bis der Kibbuz wieder bewohnbar sei, werde es aber noch mindestens ein Jahr dauern. Wer dort denn, wie er, überhaupt noch leben will? Unklar. „Es spricht vieles dafür, wieder hierherzukommen“, sagt Lewinsohn. „Und auch vieles dagegen.“ Er selbst hat noch einiges zu renovieren, ehe seine Frau und er zurück in ihr Haus können. Wände und Böden sind voller Einschusslöcher, die Fenster herausgerissen oder zertrümmert.

    Ein roter Punkt auf dem Haus zeigt: Hier lag eine Leiche

    Auf viele der Häuser, vor denen er bei seinem Rundgang durch den Kibbuz kurz stehen bleibt, hat die israelische Armee nach dem Terrorangriff einen Kreis mit einem roten Punkt gesprayt – das Zeichen für die nachrückenden Helfer, dass dort Tote liegen, viele von ihnen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und zuvor häufig noch vergewaltigt oder gefoltert. Mit einem Angriff auf dem Boden, auf ihrem eigenen Terrain, hatten die Kibbzniks von Kfar Aza ebenso wenig gerechnet wie die israelische Armee. An die Raketen hatten sie sich mit den Jahren irgendwie gewöhnt, einige gingen bei einem Alarm schon gar nicht mehr in die Bunker oder die Schutzräume. Die aber waren, wie man heute weiß, auch nur bedingt sicher. Detonationen und Druckwellen halten sie aus, viele ihrer Türen aber waren nicht kugelsicher, sodass die Terroristen durch sie hindurch feuern konnten oder ganze Familien umbrachten, indem sie Gasflaschen in die Häuser rollten und das Gas entzündeten. Nach der Explosion zogen der Rauch und das Feuer dann durch die Türritzen auch in die Bunker. 

    Einer von mehr als 60 Toten: In diesem Haus starb der junge Nitzak Libstein
    Einer von mehr als 60 Toten: In diesem Haus starb der junge Nitzak Libstein Foto: Rudi Wais

    Fast jedes Haus in Kfar Aza, das übersetzt „Dorf Gaza“ bedeutet, hat heute eine solche Geschichte zu erzählen, wenige aber sehen so aus wie die in der Straße von Ofir Libsteins Sohn Nitzam: voller Einschusslöcher und Granatsplitter, ausgebrannt, die Dächer zertrümmert und die Fassaden teilweise auch. Rechts neben der Stelle, an der bei den jungen Libsteins einmal eine Türe war, hängt wie ein trotziges Zeichen gegen den Terror eine israelische Flagge – und darunter ein Plakat mit einem Foto des Getöteten: „In diesem Haus wurde Nitzam Libstein brutal ermordet.“

    Die Bilanz des Massakers: Tote, Verletzte, Verkrüppelte, Traumatisierte

    Ralph Lewinsohn dachte an jenem Morgen zunächst an einen der üblichen Raketenangriffe der Hamas. „Nichts Außergewöhnliches.“ Dann aber sah er die ersten vermummten Kämpfer zwischen den Häusern, die sich mit Bulldozern den Weg über die Grenze geebnet und Zäune und Tore durchbrochen hatten. Zuvor hatten sie, wie man heute weiß, mit Drohnen die Überwachungskameras im Kibbuz zerstört. Wie präzise vorbereitet der Angriff war, zeigt für Lewinsohn allerdings auch noch etwas anderes: „Als Erstes haben sie ehemalige Politiker und Militärs umgebracht, die hier gelebt haben. Sie wussten genau, in welchen Häusern sie lebten.“ 

    Kfar Aza hatte keine Chance. Aus dem Paradies des Ofir Libstein, in dem tagsüber die Vögel sangen und nachts die Frösche quakten, hat die Hamas für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte einen Höllenort gemacht: Tote, Verletzte, Verkrüppelte, Traumatisierte, lebenslang Gezeichnete. Trost findet ein Überlebender wie Ralph Lewinsohn 19 Monate danach am ehesten noch in der Aufschrift, die jemand auf das Surfbrett seines getöteten Freundes gekritzelt hat: „Die Seele eines Menschen kann man nicht ermorden.“ 

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden