Wenn die Faktenlage kein Grund für Optimismus ist, sucht der Mensch in der Vergangenheit nach Episoden, die positiv in die Zukunft schauen lassen. In Leverkusen spricht wenig dafür, dass die örtliche Bayer-Mannschaft in dieser Saison ins Viertelfinale der Champions League einzieht. Die Mannschaft von Trainer Xabi Alonso verlor das Hinspiel in München mit 0:3 und nun fällt auch noch der Spieler aus, der dafür bekannt ist, den Unterschied machen zu können. Die Leverkusener müssten im Vergleich zu ihrem recht blassen Auftritt beim FC Bayern in der Vorwoche tatsächlich eine gänzlich andere Leistung bringen. Das müssen sie ausgerechnet ohne Florian Wirtz schaffen. Ihm war am Samstag der Bremer Mitchell Weiser recht vehement auf den Knöchel gestiegen. Wie die Leverkusener am Montag bekanntgaben, wird Wirtz mit einer Innenband-Verletzung nicht nur für das Spiel gegen die Münchner am Dienstag (21 Uhr, Amazon Prime) ausfallen, sondern für mehrere Wochen.
Ein 0:3 als Hinspiel-Hypothek, der beste Spieler fällt verletzt aus - die Leverkusener sind gewiss schon mit breiter gespannten Bayer-Kreuz auf der Brust über den Platz gelaufen. Da scheint es günstig, dass sie in Xabi Alonso einen Trainer haben, der aus eigener Erfahrung von den fantastischen Wendungen erzählen kann, die der Fußball ab und an im Angebot hat. Der Spanier war 2005 selbst dabei, als es zur größten Aufholjagd kam, die es in einem Finale der Königsklasse gab. Damals trug Alonso das Trikot des FC Liverpool und lag zur Halbzeit gegen den AC Mailand mit 0:3 zurück. Innerhalb von 15 Minuten kamen die Engländer nach der Pause zum Ausgleich. Alonso schoss das dritte Tor im Nachschuss nach einem von ihm vergebenen Strafstoß. Später gewann der FC Liverpool die Partie im Elfmeterschießen.
Xabi Alonso ist mit Psychospielchen vertraut
Derartige Volten sind selbstverständlich selten, ansonsten wären sie ja auch nicht erinnerungswürdig. Gleich ist ihnen ebenso, dass mit ihnen nicht zu rechnen ist. Insofern haben die Leverkusener schon wieder ganz gute Chancen. Sie konnten selbst gegen die zuvor durchhängenden Bremer in der Liga keinen Erfolg einfahren. „Wir sind es nicht gewohnt, zweimal nacheinander zu verlieren. Jetzt müssen wir wiederkommen“, sagt Alonso. Mit der Erfahrung seiner 43 Lebensjahre weiß er selbstredend auch, wie verbal auf Aufgaben der kommenden Preisklasse zu reagieren ist: mit kleinen Psychospielchen. „Nur Bayern hat etwas zu verlieren“, sagte er dementsprechend auf der Pressekonferenz vor dem Spiel gegen die Münchner. Seine Mannschaft hingegen könne ausschließlich gewinnen. Was man eben so sagt, um den Druck ungleichmäßig auf eines der beiden Teams zu verteilen.
In der bayerischen Landeshauptstadt kennt man sich mit derartiger List aus. Möglicherweise hat sie Uli Hoeneß sogar erfunden. Dessen bekanntester Trick war, einem der prägenden Spieler des Gegners kurz vor dem direkten Aufeinandertreffen ein Vertragsangebot zu unterbreiten oder zumindest die Absicht zu bekunden, ihn zu verpflichten. So macht er auch kein Geheimnis darauf, dass er Wirtz in Zukunft gerne im Trikot der Münchner sehen würde. Dafür allerdings müsste das Festgeldkonto ziemlich geplündert werden. Außerdem hatte der Ehrenpräsident der Münchner im vergangenen Jahr gesagt, dass es keine Zugänge gebe, wenn der Verein keine Spieler im Gegenzug abgibt. Zuletzt kamen Gerüchte auf, wonach Kingsley Coman im kommenden Sommer einen Wechsel nach Saudi-Arabien anstrebe und die Bayern ihn auch ohne große Gegenwehr - aber gerne als Empfänger einer hohen Ablöse - ziehen lassen würden.
Das alles aber sind Themen, die am Dienstag nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ehe der Ball roll, gilt es im Fall der Leverkusener wenigstens sich selbst Mut zu machen, wenn sonst schon kaum jemand an eine der größeren Überraschungen der vergangenen Jahre glaubt. „Es kann ein Spiel sein, das auch in die Geschichte eingeht. Wir wissen, dass das eine riesige Challenge ist, aber die nehmen wir an“, ordnetet Kapitän Jonathan Tah die Partie im historischen Kontext ein.
Sollten seine Mannschaft den Rückstand tatsächlich aufhören, stünde das mindestens auf einer Stufe mit einer anderen Bayer-Sternstunde. Im Jahr 1988 holten die Leverkusener im Finale um den Uefa-Cup schon einmal einen 0:3-Rückstand auf. Damals hatten sie das Hinspiel bei Espanol Barcelona verloren, um zwei Wochen später vor den heimischen Fans mit 3:0 zu gewinnen und schließlich das Elfmeterschießen für sich zu entscheiden. Die Fakten bieten weniger Grund für Optimismus als die Geschichte. Die wiederholt sich allerdings nur selten.
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