Man stelle sich folgende Konstellation in der heutigen Mannschaft des FC Bayern vor: Die Führungsspieler Harry Kane und Joshua Kimmich sind bis aufs Blut verfeindet, es ist ein offenes Geheimnis. Kimmich wittert eine Intrige von Kane und fordert ihn zu einem TV-Duell auf. Unterdessen macht Jungstar Jamal Musiala mit einer gescheiterten Beziehung Schlagzeilen und attackiert bei einem Mannschaftsabend angetrunken seine Mitspieler. Aber auch auf dem Platz kracht es ständig, Torwart Manuel Neuer rastet nach einem Ballverlust aus und schüttelt Leon Goretzka auf dem Rasen durch. Trainer Vincent Kompany wütet nach Attacken seiner Spieler auf einer Pressekonferenz. Und am Ende der Saison erscheint Kimmichs Tagebuch, in dem alle Interna brühwarm zu lesen sind.
Gibt‘s nicht? Gab‘s doch. In den 90er Jahren lieferte die Fehde zwischen Jürgen Klinsmann und Lothar Matthäus fast täglich neue Schlagzeilen, stieg Mehmet Scholl zum Jugendidol auf und stolperte über sein Privatleben, Oliver Kahn verlor nicht nur bei Andreas Herzog die Geduld. Giovanni Trapattoni und sein „Flasche leer“-Auftritt sind heute noch legendär. Tja, und dann gab es eben noch das Tagebuch von Lothar Matthäus, mit dem im Sommer 1997 nicht nur dessen Zeit als Kapitän beim FC Bayern endete, sondern beinahe auch komplett das Kapitel Matthäus beim FCB. Es waren die wilden 90er-Jahre im Fußball. Die fünfteilige ZDF-Dokumentation „FC Hollywood – Der FC Bayern und die verrückten 90er“ geht dieser Zeit nach – und liefert, ebenso wie der FC Bayern zu dieser Zeit, grandiose Unterhaltung.
Mehmet Scholl über den FC Bayern der 90er: „Es gab nicht zwei Lager, es gab 15!“
Die Produktion des ZDF und der Kölner Bildundtonfabrik ist ein Genuss für alle, die den Fußball der 90er-Jahre erlebt haben. Mindestens unterhaltsam ist das Zusammenspiel der vielen Alfa-Tiere an der Säbener Straße aber auch für alle anderen. Archiv-Schnipsel aus der Zeit des FC Hollywood werden mit aktuellen Interviews gegengeschnitten und geben Einblick in eine Mannschaft, über die Dietmar Hamann sagt: „Wir haben das Wort Mannschaft zu der Zeit gar nicht verdient.“ Sieht auch Scholl so: „Es gab nicht zwei Lager, es gab 15!“
Der langjährige Pressechef der Bayern, Markus Hörwick, erinnert sich an den Amtsantritt von Ottmar Hitzfeld: „Er hat eine Mannschaft übernommen, in der Kahn, Basler, Effenberg, Scholl und Matthäus waren. Das ist kurz vor der Irrenanstalt.“ Tatsächlich sollte es Hitzfeld schaffen, die zuvor strauchelnden Bayern auf Kurs zu bringen. Den Hauptanteil für den FC Hollywood liefert aber Matthäus, der mit seiner Nähe zu Boulevard-Medien seine Mitspieler in den Wahnsinn trieb. Patricia Riekel, die langjährige Chefin der Bunte, beschreibt das Verhältnis zu ihm so: „Immer, wenn wir in der Themenkonferenz nicht weiter wussten, hat einer gesagt: Ruf doch mal den Lothar an. Und Lothar hat zu allem was gesagt.“

Matthäus und seine an Naivität grenzende Offenheit mögen ein Extrembeispiel gewesen sein. Insgesamt war das Verhältnis der Spieler gegenüber Journalisten ein ganz anderes, wie Thomas Strunz sagt: „Sie hatten alle unsere Handynummern und haben uns angerufen.“ Der FC Bayern wiederum suchte die Öffentlichkeit, um ein „Ballyhoo“ (Hörwick) zu veranstalten, damit das zuvor halbleere Olympiastadion zum Spieltag gefüllt wird. Das klappte, doch zugleich ging der Geist nicht mehr in die Flasche zurück. „Es gab keinen Tag ohne Skandal“, sagt Scholl.
Es ist der Gegenentwurf zum heutigen Fußball, in dem Interviews mit Fußball-Profis immer über die Zwischeninstanz Pressesprecher laufen und anschließend geglättet werden. Der FC Bayern der 90er-Jahre mag sportlich nicht so erfolgreich gewesen sein wie das geschliffene Hochglanzprodukt der heutigen Zeit – spannender ist der Fußball aber nie wieder geworden. Ein Tagebuch hat auch nie wieder einer geschrieben.
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