Es ist erst wenige Tage her, da hatte Giulia Gwinn in der Alten Sihlpapierfabrik am Kalanderplatz von Zürich gesessen, um von dieser Europameisterschaft zu schwärmen. Sie erzählte, was ihr dieses Ereignis unweit ihrer Heimat bedeute. Sie erklärte, warum sie die Titelmission so zuversichtlich angehe. Das Glück leuchtete aus ihren Augen. Drei Tage später – dazwischen lag noch ihr 26. Geburtstag – sind nur noch Tränen gewesen. Bereits bei ihrer Abwehraktion gegen Polens Torjägerin Ewa Pajor griff sich die deutsche Kapitänin ans linke Knie. Wenig später musste sie weinend raus. Bundestrainer Christian Wück sprach bereits am Freitagabend in St. Gallen von einem „bitter erkauften Sieg“.
Glücklicherweise hat sich der anfängliche Verdacht auf den dritten Kreuzbandriss ihrer Karriere nicht bestätigt, aber die nach einer MRT-Untersuchung in Zürich vermeldete Innenbandverletzung zwingt zu einer Pause von mehreren Wochen. Bereits am Sonntag packte die Starspielerin vom FC Bayern im Teamhotel ihre Koffer, um sich in München näher untersuchen zu lassen. Das zweite EM-Gruppenspiel gegen Dänemark in Basel (Dienstag 18 Uhr/ARD) wird sie verpassen, zur dritten Partie gegen Schweden in Zürich (Samstag 21 Uhr/ZDF) kommt sie als Zuschauerin zurück.
Sportdirektorin Nia Künzer wirkte betroffen, als sie sagte: „Giulia ist niedergeschlagen. Sie hatte sich sehr gefreut, hatte sich gut vorbereitet – dementsprechend ist sie jetzt enttäuscht.“ Bereits in der Nacht zu Samstag hatte sich die in ihrer Karriere von vier (!) Kreuzbandrissen geplagte 45-Jährige ehrenhaft um die in den Kybunpark gekommene Familie gekümmert. Eltern, Geschwister, Freund: Gegen Mitternacht blickten sie, in ihren weißen Gwinn-Trikots mit der Nummer sieben, fast paralysiert vor dem Mannschaftsbus gefühlt in ein schwarzes Loch.
Acht Millionen TV-Zuschauer
Das von mehr als acht Millionen Fernsehzuschauern in der ARD verfolgte Drama vom Bodensee wirft vieles über den Haufen. Hinten rechts muss nun die international ziemlich unerfahrene Carlotta Wamser funktionieren. Das gesamte Gefüge ist ohne die smarte Anführerin auseinandergerissen. „Ich bin überzeugt von diesem Team und diesem Teamspirit“, beteuerte Künzer, wohl wissend, dass sich die neuen Hierarchien erst finden müssen. Auf die Trauer soll schon im St. Jakob-Park gegen Dänemark eine Trotzreaktion folgen.
Abwehrchefin Janina Minge wird nun die Regenbogenbinde tragen, wobei die bissige Defensivspezialistin vom VfL Wolfsburg die Verletzung so wahrnahm: „Das war ein brutaler Schock, wir kennen alle ihre Vorgeschichte.“ Ihr Appell: „Wir müssen jetzt als Mannschaft zusammenstehen und Giuli beistehen“. Es böte sich an, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen. Neben Torhüterin Ann-Katrin Berger wäre ein Trio vom FC Bayern gefragt: Klara Bühl und Lea Schüller, aber auch Linda Dallmann müssen mithelfen, das Machtvakuum zu schließen.
Vielleicht trug Gwinn zuletzt auch zu viel Verantwortung: Sie war omnipräsent, weil sie gerne voranging. Nun kann sich niemand mehr hinter dem bekanntesten Gesicht verstecken. Eine der weltbesten Rechtsverteidigerinnen hofft derweil, dass wirklich nur das Innenband betroffen ist. Als im September 2020 bei einem EM-Qualifikationsspiel gegen Irland das Kreuzband im rechte Knie riss, hieß es zunächst, bloß das Außenband sei lädiert. „Das war für mich das Allerschönste, was hätte passieren können – zumindest für einen kurzen Moment“, schilderte sie in ihrer Biografie „Write your own story – mein Weg vom Bolzplatz in die Weltspitze“. Sie hatte sich damals zu früh gefreut, denn am Tag danach kam die richtige Diagnose, was ihr „den Boden unter den Füßen“ wegzog.
Droht für Gwinn das Karriereende?
Im Oktober 2022 erlitt sie dieselbe Verletzung bei einer Länderspielmaßnahme im linken Knie. Damals brach Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg das Training sofort ab, weil vielen Mitspielerinnen Tränen in die Augen schossen. Jetzt muss der Verarbeitungsprozess schnell gehen. „Wenn Giuli liegt, ist es nie gut. Normal steht sie schnell wieder auf“, erzählte Stürmerin Jule Brand, die mit einem Traumtor (52.) und einer Traumflanke auf Lea Schüller (66.) den Pflichterfolg erzwang. Vereinskollegin Dallmann versprach, dass das Team für Gwinn da sein werde. Doch ist eine Vorzeigespielerin, die als Sechsjährige auf einen Zettel für den Opa schrieb, dass sie Fußballerin werden wolle und dafür erst ihre Mutter überzeugen musste, überhaupt empfänglich für tröstende Worte? In ihrem Buch hat sie geschrieben: „Meine größte Angst ist, dass ich meine Karriere als Spielerin früher beenden muss als erhofft und geplant.“
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