Lando Norris wusste sofort, was passiert war. Ein kurzer Blick auf seinen Rennwagen gab die letzte Gewissheit. Der linke Vorderreifen hing in einem ungewohnten Winkel weg, der Frontflügel fehlte ganz. Norris hatte gepatzt. So richtig. Weil er ungeduldig wurde und Platz sah, wo keiner war. Nur noch wenige Runden waren beim Formel-1-Rennen in Montreal zu fahren, Norris hing hinter seinem McLaren-Kollegen Oscar Piastri fest. Weil sich der Brite im schnelleren Auto sah, wollte er unbedingt überholen.
Ein Platz auf dem Podest ist äußerst reizvoll, erst recht, wenn sich beide Kontrahenten Hoffnungen auf den WM-Titel machen dürfen. Da hilft jeder Platztausch. Norris also sah eine Überholmöglichkeit, wo keine war. Er wollte links an Piastris Rennwagen vorbei, dort allerdings war der Abstand zur Mauer zu gering. Folglich fuhr Norris seinem Teamkollegen in den Wagen. Für Norris war es das Rennende, Piastri wurde immerhin noch Vierter.
Schon am Boxenfunk gab Norris seine Schuld unmittelbar zu. Dumm sei das von ihm gewesen, sagte er. Auch hinterher gab er sich in jedem Interview reumütig. „Wenn ich mich in so einem Moment zum Deppen mache, dann bereue ich das sehr. So etwas schmerzt“, meinte Norris. Noch mehr dürfte ihm zusetzen, dass er ohne Punkte aus Kanada abgereist ist. 22 Zähler liegt er nach zehn von 24 Rennen hinter Piastri. Eine Vorentscheidung?
Bei Norris ist die Fehlerquote zu hoch
Rein nach Zahlen gesehen, natürlich noch nicht. Mental aber dürfte es ein großer Rückschlag für den 25-Jährigen gewesen sein. Bringt das Manöver doch wieder verstärkt die Zweifel zutage, ob er schon bereit für den WM-Titel ist. Die Fehlerquote bei Norris sei einfach zu hoch, urteilte der frühere Formel-1-Fahrer Timo Glock.
Piastri wirkt weitaus überlegter im engen Teamduell. Dem Australier unterlaufen deutlich weniger Fehler. Am Sonntag nahm er seinen Teamkollegen in Schutz. Norris sei ein guter Kerl, „ich denke nicht, dass da irgendein böser Gedanke dabei war. Das war einfach unglücklich“, sagte Piastri. Norris hatte sich zudem sofort entschuldigt. Das auf der Strecke heiß geführte Duell kühlte sich nach der Zieldurchfahrt merklich ab. Die Stimmung scheint trotz des Vorfalls gelassen.

McLaren verzichtet bislang bewusst auf eine Teamorder, schreibt also den beiden Fahrern nicht vor, wer wen wann auf der Strecke überholen soll. „Ich bin dem Team sehr dankbar, dass sie uns erlauben, gegeneinander zu fahren“, sagte Piastri und fügte an: „Ich würde auch nicht denken, dass sich das ändert.“ Mit dem Risiko allerdings, dass es zu einem Unfall wie am Sonntag kommen kann. Teamboss Zak Brown hatte bereits vor einigen Wochen vorausgesagt, dass sich ein solcher Vorfall ereignen könnte. Es sei eher die Frage, wann es passiert, nicht ob es dazu komme. Er sollte Recht behalten.
Mercedes-Duo feiert ein starkes Wochenende
Die McLaren-Bosse wollen dennoch bei ihrer Strategie bleiben. Sie kündigten lediglich an, sich zeitnah noch einmal mit allen Beteiligten besprechen zu wollen. „Wir nutzen solche Vorfälle, sobald etwas Zeit vergangen ist und wir einen kühlen Kopf haben, gezielt dafür aus, um als Team stärker zu werden“, sagte Teamchef Andrea Stella. Wichtig sei es, dass vor allem die beiden Fahrer die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Vor allem wohl Norris.
Als Favorit auf den Titel war der Brite in die Saison gestartet. Ihm war zugetraut worden, die Titelserie von Max Verstappen zu beenden. Mittlerweile aber hat sich Piastri als die wohl bessere Option für den Titelkampf erwiesen. Der Australier liegt nach seinem vierten Rang in der WM-Wertung 43 Punkte vor Max Verstappen. Der Niederländer hatte am Samstag Platz zwei zwischen den beiden Mercedes-Piloten George Russell und Kimi Antonelli belegt. Allerdings stand erst gut fünf Stunden nach Rennende das Ergebnis endgültig fest.
Red Bull hatte Protest eingelegt, weil sich Russell während der Safetycar-Phase kurz vor Rennende mehrfach falsch verhalten habe. Nach längeren Besprechungen aber entschied der zuständige Weltverband Fia, dass der Protest „unbegründet“ gewesen sei. Russell also darf seine Siegertrophäe behalten. Und bei Piastri blieb es bei der Schadensbegrenzung mit zwölf Punkten auf Rang vier. „Für mich war dieses Wochenende nicht gut genug. Das ist noch kein komfortabler Vorsprung, das ist noch ein langer Weg“, sagte der WM-Führende.
Noch mehr trifft das auf seinen Teamkollegen zu. Lando Norris verließ Kanada mit einem schlechten Gefühl. Für ihn war der Unfall der Tiefpunkt der Saison. Weil er eine eigentlich klare Situation falsch eingeschätzt hatte.
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