Kommentar: Japan steht jetzt am Scheideweg
Japans Erdbeben, dessen verheerendes Ausmaß täglich offensichtlicher wird, enthält eine Tragödie, einen Skandal und eine Erfolgsgeschichte.
Die Tragödie zeigt sich in den Bildern und Nachrichten aus dem Norden des Landes. Dort ist die Naturkatastrophe in ihrer tückischen Kombination aus Erdbeben und Tsunami über die Menschen hereingebrochen. Noch sind die Toten nicht gezählt, doch es dürften mehr als 10000 sein. Auch die Reaktorkrise im Kernkraftwerk Fukushima ist eine Tragödie. Schon jetzt für die Arbeiter und Anwohner, die hoher Strahlung ausgesetzt worden sind, im schlimmsten Fall bald für Millionen weiterer Menschen. Die nukleare Katastrophe ist aber auch ein Skandal, denn alles weist darauf hin, dass die Betreiberfirma Tepco sowie die Regulierungsbehörden die Risiken nicht ernst genommen haben.
Warnsignale gab es reichlich. Immer wieder führten Erdbeben zu Störfällen und radioaktiven Lecks, doch die Verantwortlichen spielten die Pannen herunter und vertrauten darauf, dass die Systeme im Notfall schon funktionieren würden. Nun wäre es darauf angekommen, und obwohl die Reaktorgebäude den Erdstößen tatsächlich standhielten, erwiesen sich die Notstromsysteme für die Kühlung als Schwachstellen. Das ist kein Zufall. Jahrzehntelang hatten Regierung und Energiekonzerne ein gemeinsames Interesse, die Kernenergie durchzusetzen. So wollte sich der ressourcenarme Inselstaat eine gewisse Unabhängigkeit von Rohstoffimporten erkaufen. Wie hoch der Preis von heruntergespielten Risiken und mangelnder Transparenz sein kann, bekommt das Land jetzt zu spüren.
Stolz können die Japaner darauf sein, dass die Katastrophe auch eine Erfolgsgeschichte enthält. Die Zerstörung wäre viel größer gewesen, wenn Japan die Bedrohung durch Erdbeben nicht seit Jahrzehnten zum Teil seines Lebens gemacht hätte. In keinem Land wird erdbebensicherer gebaut, nirgends sind die Menschen besser auf den Ernstfall vorbereitet. Die Rettungsteams waren prompt einsatzbereit, die Versorgung der Opfer läuft gut.
Das Land steht nun am Scheideweg. Die Japaner haben ihrer Regierung in den vergangenen Jahrzehnten einen Skandal nach dem anderen verziehen. Doch sie sollten die hohen Ansprüche, die sie an ihre Erdbebenvorsorge haben, künftig auch an ihre Politiker stellen. Japan braucht eine neue gesellschaftliche und politische Vision. Die Wirtschaft ist im Dauerkrisenmodus, die Sozialsysteme drohen zu kollabieren. Die Durchhalterhetorik von Premier Kan mag für den Moment reichen. Doch schon bald werden sich die Japaner die Frage stellen müssen, wie ihr neuer, dringend benötigter Gesellschaftsvertrag aussehen soll.
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