An Weihnachten nach Hause fahren – mit dem Auto
Unsere Kollegin Lea Thies fuhr dieses Jahr mit dem Auto nach Hause zur Familie – wie halb Deutschland auch. Das Protokoll einer Heimfahrt.
Weihnachten beginnt heuer mit einem Upgrade. Golf Variant statt Polo, ein bisschen mehr Luft zum Quer-durch-Deutschland-Transportieren, ein paar mehr PS, ein bisschen mehr Spaßfaktor – und hoffentlich auch etwas weniger Zeit auf der Autobahn. Die Bahn kam dieses Jahr nicht in Frage, weil Weihnachten quasi in der Pampa stattfindet. Der Plan also: schnell hochdüsen. Wenn möglich mit einer Tankfüllung und, bitte, ohne Stau. Das Protokoll einer Heimfahrt.
23. Dezember, 17.35 Uhr Abfahrt. 7 Grad am Verlagsgebäude in Augsburg. Regen. Eben noch allen tschüss gesagt. Jetzt geht es 550 Kilometer Richtung Norden. Telefonat mit einem guten alten Freund, über Weihnachten, das Alter, über Freiheit, Rotwein und ein kühles Pils. Keine Lust, die Kilometer auf der Autobahn herunterzureißen. Freunde zu treffen, etwas zu entschleunigen, den Vorweihnachtsstress abzuschütteln wäre jetzt schöner. Ganz vergessen, dass die A8 in Richtung Günzburg eine Baustelle ist. Nichts mit Vollgas.
18.15 Uhr Nun geht es wirklich in Richtung Norden. Vor mir biegt ein Auto mit dem Nummernschild „CO-LD“ auf die Autobahn – wie passend. Ich will dahin, wo es kalt ist. Und wo hoffentlich Schnee liegt. Zum Abendbrot leckere Plätzchen von lieben Nachbarn.
18.32 Uhr Erster Anruf von Mutter. Wo ich bin, wie lange ich noch brauche, alle freuen sich schon, ich mich auch, Gas.
18.45 Uhr Das erste Mal „Driving home for christmas“ im Radio. Chris Rea sing, „weil so viele da draußen sind, die jetzt heim fahren“, sagt die Stimme im Radio. Mit mir unterwegs in diesem Moment: GÖ, B, GT, LZ aus der Schweiz und drei schwarze HH – vermutlich alles Mietwagen, so wie meiner. Wir haben alle etwas gemeinsam, wir sind gerade hier. Und höchstwahrscheinlich haben wir alle den selben Grund für unsere Fahrt: Weihnachten. Wir sind Weggefährten für Sekunden.
19.19 Uhr Verkehrsfunk: Nach einem Unfall auf der A8 bei Günzburg sind schwarz gekleidete Personen auf der Fahrbahn. Dort, wo ich vor einer Stunde war, ist jetzt gleich Stau. Ich hatte an der Stelle Glück gehabt, doch andere werden Weihnachten vielleicht im Krankenhaus verbringen. Wie automatisch gehe ich etwas runter vom Gas. Plötzlich denkt man dran, dass zwischen Leben und Tod auf der Autobahn nur wenige Meter und Sekunden liegen. Ein Fehler und das kann’s gewesen sein. Tausende Menschen fahren gleichzeitig in Metallboxen auf Rädern nach Hause. Irgendwie bescheuert aber praktisch.
19.40 Uhr Was wollen alle in Schweinfurt und Bamberg? Düse am Stau an der Ausfahrt in meinem schwarzen Raumschiff vorbei.
19.57 Uhr Wer hätte gedacht, dass Entschleunigung auch bei Tempo 180 stattfindet. Die Gedanken können endlich mal wieder ungelenkt strömen. Der Stress der letzten Tag bleibt irgendwo und irgendwie bei Bad Brückenau auf der Strecke. Langsam mehr norddeutsche Kennzeichen jetzt.
20.31 Uhr Bad Hersfeld. Den seit zwei Wochen versprochenen Rückruf nachgeholt. Den Opa meines Patenkindes von der Leiter geholt, Pause beim Dekorieren. Über Feli, „alte Jungs“, Qualität, Werte, Menschlichkeit, Heimat und Traktorfahren gesprochen. Sternekoch Heinz Winkler erzählt, dass er schon ein paar Mal gelebt hat. Das letzte Mal im 16. Jahrhundert. Und dann meint er: Nur weil man etwas nicht begreift, heißt das lange noch nicht, dass es das nicht gibt. Ich muss schmunzeln. Das ist ein bisschen wie mit dem Christkind. Damals wusste ich, dass es gar nicht möglich war, dass das Christkind alle Jungen und Mädchen zur selben Zeit beschert. Aber ich glaubte dennoch fest an dessen Existenz. Wieder scmunzeln beim Gedanken an die Tochter einer Kollegin: „Nicht wahr Mama, Du bist das Christkind“, hat die Neunjährige scharfsinnig gesagt.
20.55 Uhr Der bayerische Radiosender rauscht und verabschiedet sich wenig später. Willkommen im Norden. Aber besser ist das Musikprogramm hier auch nicht. Wieso klingen eigentlich so viele Sänger inzwischen wie Frauen? Und wieso klingen die Lieder alle gleich? Gleich schlecht! Vermutlich, damit Autofahrer sich gruseln und nicht einschlafen. Der MP3-Player im Smartphone kommt gegen das Motorenrauschen nicht an.
21 Uhr Tanken in Kassel. Der Autohof sieht traurig aus. Leichtreklamen an Restaurants, Tankstelle und Spielhölle. Ein paar Trucker machen Rast. Familien tanken, niemand will länger als nötig an diesem Ort bleiben. Weiter zum Christbaum. Franz Riedel ist der einzige, der nach dem Tanken kurz einen Kaffee gegen die Müdigkeit trinkt. Bei einem Espresso erzählt der Brummifahrer ein bisschen. Wir haben beide mehreren Stunden des Schweigens hinter uns und haben es bald geschafft. Erst einmal kein Schnee in Sicht und auch kein Verkehrschaos, zumindest laut Verkehrsfunk. Er Brummifahrer hat es bald geschafft. Er muss nur noch ein paar Lebensmittel nach Hamburg transportieren. Dann nach Hause zur Familie. Dieses Jahr habe er Glück. Letztes Jahr war er Weihnachten allein in Spanien. Nicht schön.
21.21 Uhr Niedersachsen. Der Blitzer kurz vor Hannoversch Münden. Jeder weiß, dass der am Berg vor der Brücke steht. Hinter mir kommt ein Benz aus Stuttgart angerauscht. Foto? Auch er weiß es, Vollbremsung. Kein Foto zu Weihnachten für uns beide. Weiter.
21.33 Uhr Happy Christmas von John Lennon im Radio kurz nach Göttingen.
21.40 Uhr Nordheim. Abfahrt von der A7. 6 Grad. OHA-MA tuckert vor mir im Uralt-Opel über die Landstraße. Keine Lust zum Überholen. Lieber im Vorbeifahren auf die Schilder in der mitteldeutschen Provinz achten. Favorit: „Miet me“ an einer Autovermietung. Zunächst gedacht, es handele sich um ein anderes Etablissement. Oder wenig später „Innovationspark Tannenhöhe“ – das ist die Harzer Version von Laptop und Lederhose.
21.47 Uhr Kindheit im Radio. „China in your Hand“ von T’Pau – war glaube ich irgendwann in den 1990ern auf meiner ersten Kuschelrock.
21.55 Uhr „Wir brauchen keinen Schnee an Weihnachten“, sagt die Frau von Radio FFH. Die spinnt wohl. OHA-MA tuckert weiter vor mir hin.
22 Uhr Osterode am Harz - OHA. Ich muss an Jürgen Trittin denken. Auf die Frage „Herr Trittin, wo würden Sie niemals Urlaub machen“ soll er angeblich mal geantwortet haben. „Im Harz.“ Kam bei den Harzern nicht gut an, damals. Schön, dass es heute noch einen Ort in Deutschland gibt, der nicht wie geschleckt ist, wo die Zeit seit 30 Jahren stehen bleibt.
22.04 Uhr Jetzt geht es hoch. Druck auf den Ohren, der Fuß des Harzes. Die Bäume werden dunkler, es liegt Schnee. Ich fahre in die Wolken. Kaum noch Autos auf der Straße. Alle sind schon angekommen, ich auch gleich. Auf der A4 am Kirchheimer Dreieck aber ist Megastau, 800 Liter Öl sind ausgelaufen. Froh, gerade nicht dort zu sein.
22.28 Uhr Da! Altenau. Die Hütte im Wald, warmes Licht, Familie, Kindheitserinnerungen. Die Müdigkeit und Erschöpfung sind weg. Es liegt Schnee. Herr Trittin sollte das mal sehen. Jetzt dürfte es ruhig schneien. Das wäre das perfekte Heiligabend-Upgrade.
Nachtrag. 24. Dezember, 11 Uhr. Neuschnee in dicken Flocken. Na dann: Frohe Weihnachten von hier aus dem hohen Norden an alle Leserinnen und Leser nach Schwaben.
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