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Im Café Tür an Tür hat „Mücken müssen Flüsse küssen“ Premiere: Ein Stück von Einwanderern über Einwanderung für alle

Augsburg

„Es ist demütigend, als sprachliches Defizit wahrgenommen zu werden“

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    Sie lernen noch nicht lange Deutsch und spielen jetzt gemeinsam Theater (von links) Aude Lise, Houda, Ali Deeb, Regisseur Dominik von Gunten, Asmik Gevorgian
    Sie lernen noch nicht lange Deutsch und spielen jetzt gemeinsam Theater (von links) Aude Lise, Houda, Ali Deeb, Regisseur Dominik von Gunten, Asmik Gevorgian Foto: Stefanie Schoene

    Eine Zahnärztin aus Tunesien, ein Förster aus der Ukraine, ein Arzt aus Syrien, einer aus dem Sudan, eine armenische Ärztin aus Russland spielen Theater. Schauspieler sind sie alle nicht. Was sie eint: Sie sind erst kurz in Deutschland. Krieg, Studium oder Arbeit haben sie nach Augsburg geführt. Jetzt sollen und wollen sie Theater spielen, geht das? „Mücken müssen Flüsse küssen“, heißt ihr Stück, eine dramatische Inszenierung über einen Stoff, der das Ankommen und die Macht der Sprache behandelt.

    Das Wichtigste in seiner Deutschlerngruppe sei, dass die Leute wieder zu einer Sprache finden, erklärt Regisseur Dominik von Gunten. Er ist der Deutsch-Lotse des ungewöhnlichen Ensembles, das sich regelmäßg im Café Tür an Tür trifft. „Deutsch muss ein Teil von ihnen werden, in dieser offenen Café-Atmosphäre sollen sie beginnen, sich zu trauen und zu sprechen.“ Ein Gefühl für Selbstwirksamkeit, das ist es, was er den Einwanderern zurückgeben will, damit sie schnell aus dem Strudel von mangelnder Sichtbarkeit, Behördenmacht und Entwertung herausfinden. Von Gunten engagiert sich seit Langem als ehrenamtlicher Lehrer im Deutsch-Café. Aber der 72-Jährige ist von Berufs wegen auch Theatermann. Er kennt die emotionale Wirkmacht, wenn gesellschaftliche Themen auf großer Bühne vor Publikum verhandelt werden. In seiner Gruppe materialisierte sich eine Idee, ein Ziel, das all die Lippengymnastik für „ü“, den Frust mit irrationalen Artikeln und unregelmäßigen Deklinationen belohnte: „Mücken müssen Flüsse küssen“, ein Theaterstück.

    Alle Darsteller erlebten schon das Gefühl von Ohnmacht und Abhängigkeit

    Manche Teilnehmer seines offenen Projekts sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland, bei den Proben müsse in diesem Babylon der Sprachen dauernd etwas übersetzt werden. Bei aller Unterschiedlichkeit jedoch ist ihnen ein Erfahrungsschatz gemeinsam: Im Kontakt mit Verwaltungen erlebten sie alle Zustände von Ohnmacht und Abhängigkeit. Die Intensität dieser Erfahrungen ist abhängig von der Sprachfähigkeit, denn Verwaltungen können wenig nachsichtig sein.

    „Ja, es macht klein, es ist demütigend, nicht als ganze Person wahrgenommen zu werden, sondern als sprachliches Defizit.“ Dabei ist Asmik Gevorgian wie auch die anderen meist akademisch gebildeten Darsteller des Projekts im Prinzip sprachmächtig. Die 40-Jährige wuchs mit Russisch und Armenisch auf, spricht auch Ukrainisch und Französisch. Bis November 2022 leitete sie als Oberärztin eine onkologische Klinik in St. Petersburg. Mit dem Angriff auf die Ukraine sollte sie als Medizinerin in die russische Armee eingezogen werden. „Da bin ich geflohen“, sagt sie. Ihr Aufenthaltsstatus ist nach wie vor in der Schwebe, es seien zu viele Behörden zuständig – Ausländeramt, Asylbehörde, Berufsanerkennungsbehörde, Fachkräfteeinwanderungsstellen. Aber sie hat schon die C1-Prüfung, das höchste Sprachniveau, geschafft. Das gibt Hoffnung. Im Stück spielt sie eine Frau mit unklaren, aber flächendeckenden Schmerzen auf einer Telefon-Odyssee durch Arztpraxen, von denen keine ihr einen Termin gibt.

    Ein Arzt hatte einen Einsamkeitsschock in Deutschland

    Ali Deeb ist ebenfalls Arzt. Der 26-Jährige stammt aus Latakia in West-Syrien. Neben dem Studium hatte er bei dortigen Medizin-Professoren, die ihrerseits in früheren Zeiten in der BRD oder DDR promoviert hatten, Deutschunterricht genommen. Seit einem Jahr ist er hier als Assistenzarzt in einem Krankenhaus. Eine Prüfung steht noch an, dann will er seinen Facharzt in Kardiologie machen. „Ich hatte mich wahnsinnig gefreut auf Deutschland, aber erst hatte ich einen Einsamkeits- und Kulturschock.“ Inzwischen ist er angekommen, fühlt sich wie sein altes Ich in Syrien, wie Ali.

    Klischeehaft zu arbeiten, ist nicht von Guntens Stil. Seine Darstellerinnen und Darsteller haben doppelte Rollen: Sie spielen auch den Counterpart, den, der die Macht der Mehrheitsgesellschaft im Rücken hat. Um dies dramaturgisch umzusetzen, setzt er Videosequenzen ein. Ali Deeb als Herr Käfer von der Steiger GmbH, Asmik Gevorgian als Anrufbeantworter und Praxispersonal, das sie abwimmelt. Aude Lise (19) spielt den afghanischen Jungen, aber auch seine Asyl-Entscheider, die glauben, dass er Lügen über sein Alter erzählt. Houda, die Zahnärztin aus Tunesien, spielt die Welt diesseits und jenseits der Trennscheiben im Ausländeramt.

    „Diese existenziellen Themen, mit denen sich ein wichtiger Teil unserer Bevölkerung auseinandersetzt sind Neuland für mich“, gibt von Gunten zu. Er schrieb das Stück nach wahren Begebenheiten und will, dass auch die Kunst versteht, dass Einwanderer zur Gesellschaft gehören. „Das verändert nicht nur ihre, sondern auch unsere Kultur.“ Klassische Theaterstücke hätten ihre Berechtigung, doch sie spiegeln bürgerliche Themen, beschäftigen sich mit sich und ihrer Schicht. „Das müssen wir ändern, wir müssen diese neue Welt zeigen.“

    Uraufführung am Sonntag, 19 Uhr, Café Tür an Tür, Wertachstraße 29. Eintritt frei

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