Gustl Mollath ist eines der bekanntesten Justizopfer Deutschlands. Für 2747 Tage in der Psychiatrie bekam er knapp 700.000 Euro Entschädigung. Jetzt hat sein Unterstützer den Fall in einem Buch dokumentiert - und sagt, es hat sich seither nicht genug geändert.
"Auf dieses Land ist überhaupt kein Verlass", sagt der 64-Jährige im Interview der Deutschen Presse-Agentur in München. Mollath will Deutschland verlassen. Seine Einschätzung kommt nicht von ungefähr. 2747 Tage lang saß er zu Unrecht in der Psychiatrie - als psychisch krank und gemeingefährlich vom Gericht dorthin geschickt, nachdem seine Ehefrau ihn beschuldigt hatte, sie attackiert zu haben.
Mollath sagte über die Schwarzgeldgeschäfte seiner Frau aus - und wurde für paranoid gehalten.
Seiner Geschichte über Schwarzgeldgeschäfte seiner Frau, die als Bankerin arbeitete, glaubte niemand. Sie wurde stattdessen als Beleg angefügt für seine Verwirrtheit und Paranoia. Jahre später wurde dann klar: Mollath hat die Wahrheit gesagt. Sein Fall wurde wieder aufgerollt, er wurde aus der Psychiatrie entlassen. Behörden und Politiker - allen voran die damalige bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) - gerieten unter Druck.
"Es war kein Justizirrtum, es war ein Staatsverbrechen", sagt Mollaths Unterstützer Wilhelm Schlötterer der dpa. Er hat den Fall in seinem neuen Buch detailliert dokumentiert. "Es wird anderen Leuten auch übel mitgespielt hier in Bayern, aber der Fall Mollath war ein Exzess. Man wollte ihn mundtot machen."
Der frühere Beamte Schlötterer ist seit Jahrzehnten Gegenspieler mächtiger CSU-Politiker. Als Finanzbeamter machte er sich Anfang 1993 bei der Aufklärung der sogenannten Amigo-Affäre einen Namen, die zum Sturz des damaligen Ministerpräsidenten Max Streibl (CSU) führte.
Chronologie: Der Fall Gustl Mollath
Seit 2006 saß der Nürnberger Gustl Mollath in der Psychiatrie und kämpfte für seine Freilassung. Im August 2013 wurde er entlassen. Jetzt hat der Fall ein juristisches Nachspiel. Eine Chronologie der Ereignisse:
November 2002: Gustl Mollath wird von seiner Frau wegen Körperverletzung angezeigt. Er soll sie im August 2001 geschlagen, gebissen, getreten und gewürgt haben. Mollath bestreitet die Vorwürfe.
September 2003: Die Hauptverhandlung wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung beginnt vor dem Amtsgericht Nürnberg. Das Verfahren wird ausgesetzt und beginnt im April 2004 neu. Ein Gutachter attestiert Mollath gravierende psychische Störungen.
Dezember 2003: Mollath erstattet Strafanzeige gegen seine Frau, weitere Mitarbeiter der HypoVereinsbank und 24 Kunden wegen Steuerhinterziehung, Schwarzgeld- und Insidergeschäften. Die Anzeige wird von der Staatsanwaltschaft abgelegt.
August 2006: Ein Gutachter bescheinigt Mollath eine wahnhafte psychische Störung und paranoide Symptome. Er wird vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen.
Februar 2007: Der Bundesgerichtshof verwirft Mollaths Revision als unbegründet.
November 2012: Ein interner Revisionsbericht der HypoVereinsbank aus dem Jahr 2003 wird publik. Danach traf ein Teil von Mollaths Vorwürfen zu. Die Freien Wähler fordern den Rücktritt der damaligen bayerischen Justizministerin Beate Merk (CSU) und einen Untersuchungsausschuss.
18. März 2013: Die Staatsanwaltschaft beantragt die Wiederaufnahme des Mollath-Prozesses.
24. Juli 2013: Das Landgericht Regensburg weist die Anträge zurück.
6. August 2013: Das Oberlandesgericht Nürnberg hebt die Regensburger Entscheidung auf und ordnet die Wiederaufnahme des Strafverfahrens sowie die sofortige Freilassung Mollaths an.
5. September 2013: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gibt einer Beschwerde Mollaths statt. Seine Unterbringung in der Psychiatrie war demnach seit 2011 verfassungswidrig.
14. August. 2014: Das Landgericht Regensburg spricht Gustl Mollath im Wiederaufnahmeverfahren frei.
1. März 2018: Mollath kündigt eine Schadenersatzklage gegen den Freistaat Bayern an.
20. März 2019: Vor dem Landgericht München I beginnt der Zivilprozess um Amtshaftungsansprüche. Mollath verlangt knapp 1,8 Millionen Euro Entschädigung. Das Gericht empfiehlt den Parteien, sich auf einen Vergleich zu einigen.
Mitte Juni 2019: Mollaths Anwalt Hildebrecht Braun und das bayerische Justizministerium teilen mit, dass sie nicht zu einer beiderseitigen Einigung gekommen sind. Damit geht der Streit vor Gericht weiter.
12. November 2019: Das Landgericht München I teilt mit, dass sich Mollath und der Freistaat «ohne Anerkennung einer Rechtspflicht zur Abgeltung der geltend gemachten Ansprüche insbesondere aufgrund unberechtigter Unterbringung in einem forensischen psychiatrischen Krankenhaus» auf die Zahlung von weiteren 600.000 Euro geeinigt habe. Schon zuvor hatte Mollath rund 70.000 Euro erhalten - die gesetzliche Entschädigung von 25 Euro pro Tag.
Buchautor Schlötterer: bayerische Justiz ist von der Politik abhängig
Auch heute noch sieht Schlötterer in der CSU-Spitze quasi den Ursprung allen Übels - besonders im Fall Mollath. Die Partei könne einfach schon zu lange und zu unkontrolliert ihren Willen im Freistaat durchsetzen. "Die CSU ist hier seit Jahrzehnten an der Macht und die Justizinstitution völlig abhängig", sagt Schlötterer.
"Nach meiner Einschätzung konnte sich der Fall Mollath nur in Bayern zeigen und in keinem anderen Bundesland. Hier ist die Staatsanwaltschaft fest in politischer Hand. Das schafft eine Neigung der Justizorgane, sich nur nach dem Winde zu richten."
Schlötterer geht davon aus, dass die Schwarzgeldgeschäfte von Mollaths Frau vertuscht werden sollten, weil der Freistaat Bayern an der Bank beteiligt war.
Auch wenn der Fall Mollath ein Schlaglicht auf Missstände im Maßregelvollzug in Bayern geworfen habe - geändert hat sich seither aus Sicht von Schlötterer und Mollath viel zu wenig. "Das ist wie mit einem wilden Hund: Dem schmeißt man kurz einen Knochen hin, damit er ruhig ist, und kümmert sich dann nicht weiter um ihn. Eine tatsächliche Verbesserung sehe ich nicht."
Die frühere Justizministerin Merk hat nach Angaben ihres Büros derzeit "kein Interesse", über den Fall zu reden, wie eine Sprecherin auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur sagte.
Die Strafprozessordnung sieht inzwischen regelmäßige Gutachten vor
Das inzwischen von Georg Eisenreich (CSU) geführte bayerische Justizministerium sieht die Sache anders als Mollath und Schlötterer: "Die bayerische Justiz hat sich mit der damaligen Kritik intensiv auseinandergesetzt", teilt ein Sprecher auf Anfrage mit.
Er verweist darauf, dass der Freistaat "wesentlich daran mitgewirkt" habe, "strukturelle Defizite der bundesgesetzlichen Regelung zur Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern" aufzuarbeiten.
Inzwischen sehe die Strafprozessordnung - nach Darstellung des Ministeriums auch dank bayerischer Initiative - vor, dass untergebrachte Menschen regelmäßig von externen Sachverständigen begutachtet werden, an deren Qualifikation nun "erhöhte Anforderungen" gestellt würden.
Die Zahl der Personen im bayerischen Maßregelvollzug steigt an
Ende 2019 befanden sich nach Angaben des bayerischen Sozialministeriums 2884 Menschen im Freistaat im Maßregelvollzug. Im Jahr davor waren es 2772, Ende 2017 waren es 2489. Wer wegen einer psychischen Erkrankung untergebracht wurde, verbrachte 2019 im Schnitt 5,42 Jahre in der Psychiatrie, Suchtkranke blieben dort durchschnittlich 1,42 Jahre.
Damit ist die durchschnittliche Unterbringungsdauer etwas gesunken. Im Jahr 2017 waren es noch 5,98 Jahre bei psychisch Kranken und 1,53 Jahre bei Suchtkranken. Wie viele Menschen wegen eines falschen Urteils eine Entschädigung bekommen, wird nach Angaben des Justizimisteriums nicht statistisch erfasst.
Markus Söder wird eventuell Kanzlerkandidat - und Mollath will Deutschland verlassen.
Mollath, der mehr als sieben Jahre in der Psychiatrie saß, hat nach einer juristischen Auseinandersetzung vor dem Landgericht München I insgesamt rund 670.000 Euro Entschädigung vom Freistaat bekommen, gefordert hatte er ursprünglich 1,8 Millionen.
In diesem Jahr darf er das erste Mal wieder zur Bundestagswahl gehen, wie er sagt. "Ich werde dieses Mal erstmals wieder wählen können dürfen und muss damit rechnen, dass (Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus) Söder der nächste Kanzler ist. Das beschleunigt meinen Wunsch, das Land zu verlassen." (Britta Schultejans, dpa)
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