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Kartei der Not: 60 Jahre verlässliche Unterstützung für Menschen in Notsituationen

Leserhilfswerk

Kartei der Not: 60 Jahre verlässlich an der Seite von Menschen, die Hilfe benötigen

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    Ein schlichter Karteikasten ist der Namensgeber für eine ganz besondere Stiftung. Die Kartei der Not wurde 1965 von Ellinor Holland gegründet.
    Ein schlichter Karteikasten ist der Namensgeber für eine ganz besondere Stiftung. Die Kartei der Not wurde 1965 von Ellinor Holland gegründet. Foto: Ulrich Wagner

    Was das Mädchen und die beiden Buben durchgemacht haben, sieht man ihnen nicht an. Der Zwölfjährige ist aufgeweckt, erzählt sofort, wie gerne er vor allem Fußball spielt, schließlich trägt er ein pink-lilafarbenes Trikot. Dass er vor über zwei Jahren miterleben musste, wie seine Oma vor seinen Augen ertrunken ist, darüber will er lieber nicht reden. Auch der 15-Jährige geht nicht ins Detail, wenn man ihn fragt, warum er hier wohnt, im Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe-Zentrum der Stiftung Evangelisches Waisenhaus und Klauckehaus in Augsburg, kurz evki. „Zu viel Stress mit meiner Mutter“, sagt er. „Sie ist psychisch schwer krank.“ Die 17-Jährige wohnt mit anderen jungen Frauen in einer Mädchenschutzstelle des evki, versucht dort die erlittene schwere Gewalt im Elternhaus zu verarbeiten.

    Das evki gehört zu den Einrichtungen, die von der Kartei der Not seit Jahren unterstützt werden. Kinder und Jugendlichen beizustehen, die es in ihrem Leben schwer haben, sie zu fördern, ist ein Schwerpunkt der Arbeit unseres Leserhilfswerks. Daher ist unsere Stiftung regelmäßig finanziell mit dabei, wenn es darum geht, Spiel-, Therapie- und andere Ausstattungsgegenstände zu finanzieren, um kranken, beeinträchtigten oder benachteiligten Kindern und Jugendlichen ein gesundes, freudvolles Aufwachsen zu ermöglichen. Oder auch, wenn sich Familien das Schulmittagessen nicht leisten können, den Klassenausflug oder den Sportvereinsbeitrag.

    Jeder Euro an Spendenmitteln wird ohne Abzug an die gute Sache weitergegeben

    Doch nicht nur für das Wohl von Heranwachsenden setzt sich das Hilfswerk von Augsburger Allgemeine und Allgäuer Zeitung ein: Seit 60 Jahren wird alles dafür getan, um Menschen jeden Alters in unserer Region, die ohne eigenes Verschulden in Not geraten sind, zu entlasten. Ein Jubiläum, das vor allem Anlass ist für ein großes Dankeschön an die vielen Spenderinnen und Spender. „Ohne ihre oft jahrelange Treue zu unserer Stiftung könnten wir unsere soziale Arbeit gar nicht leisten“, hebt Ellinor Scherer, die Kuratoriumsvorsitzende der Kartei der Not hervor. Und die stellvertretende Vorsitzende Alexandra Holland ergänzt: „Dabei wird jeder Euro, den die Stiftung an Spendengeldern erhält, ohne Abzug für die gute Sache ausgegeben.“ So ist es möglich, dass sich die Stiftung beispielsweise beteiligt, wenn Häuser und Projekte erweitert oder neu auf die Beine gestellt werden, um Bedürftigen besondere Fürsorge und Begleitung zu ermöglichen – die unentbehrliche Arbeit von Kinderheimen, Förderstätten oder auch der Hospize in Kempten und Bad Grönenbach wird so untermauert.

    Ellinor Holland, lange Jahre Verlegerin und Herausgeberin unserer Zeitung, gründete 1965 das Leserhilfswerk Kartei der Not. Seit ihrem Tod 2010 führen ihre Töchter, Ellinor Scherer und Alexandra Holland, das Lebenswerk der Mutter couragiert fort.
    Ellinor Holland, lange Jahre Verlegerin und Herausgeberin unserer Zeitung, gründete 1965 das Leserhilfswerk Kartei der Not. Seit ihrem Tod 2010 führen ihre Töchter, Ellinor Scherer und Alexandra Holland, das Lebenswerk der Mutter couragiert fort. Foto: Fred Schöllhorn

    „Jeder Schicksalsschlag ist anders, doch allen gemeinsam ist, dass diese Menschen unsere Hilfe benötigen“, verweist Ellinor Scherer auf eine schwere Krankheit, einen Unfall oder den Tod eines Angehörigen als Gründe dafür, dass Menschen aus der Bahn geworfen werden. Pro Jahr springt das Leserhilfswerk in über 2000 Fällen Menschen bei. Gerade diese Einzelfallhilfen machen das Gros der Stiftungsarbeit aus. „Die Nöte der Betroffenen sind vielfältig“, erläutert Alexandra Holland: „Senioren mit kleiner Rente sind ebenso darunter wie Menschen mit Behinderung, alleinerziehende Mütter ebenso wie Jugendliche mit Förderbedarf oder Menschen, denen die Obdachlosigkeit droht.“

    Nach dem verheerenden Hochwasser im Juni 2024 hat die Kartei der Not den Flutopfern in Schwaben in kürzester Zeit eine Soforthilfe von weit über drei Millionen Euro gewährt. So konnte für Hunderte Betroffene die erste Not unbürokratisch gelindert werden, konnten Matratzen, Hausrat oder Kleidung gekauft werden.

    Für die Aktion „Weihnachtsfreude für Gelähmte“ wurde ein Karteikasten angeschafft

    Über viele Spenden und Hilfsprojekte wird in unserer Zeitung geschrieben. Mit einer Berichterstattung begann auch die Erfolgsgeschichte des Leserhilfswerks: Eine ganze Zeitungsseite im Dezember 1965, mit der über das schwere Los von Patienten in einer Augsburger Klinik berichtet wurde, verbunden mit einem Appell an die Leser zu helfen, war der Startschuss. Denn schon damals zeigte sich, mit welch überwältigendem Einsatz unsere Leserinnen und Leser bereit sind, die Not ihrer Mitmenschen zu lindern. Um diese Aktion „Weihnachtsfreude für Gelähmte“, die eine wahre Flut an Spenden mit sich brachte, zu organisieren, wurde ein hölzerner Karteikasten angeschafft, um alle Spender und Bedürftigen verzeichnen zu können. Längst würde ein Karteikasten nicht mehr ausreichen, um alles zu verwalten. Doch der Name „Kartei der Not“ ist geblieben und steht bis heute für eine Tradition.

    Aufgebaut hat das Leserhilfswerk Ellinor Holland, die Verlegerin und langjährige Herausgeberin der Augsburger Allgemeinen. „Unverschuldete Not kann jeden treffen“, davon war Ellinor Holland überzeugt. Und so blieb das Hilfswerk ein Leben lang ein Herzensanliegen für sie. Theo Waigel, der frühere Bundesfinanzminister, kann sich noch sehr gut an die vielen Gespräche mit ihr erinnern. „Die Kartei der Not war für sie immer Thema, sie war ein Zentrum für sie“, sagt der CSU-Politiker.

    Sie habe schließlich gewusst, was es heißt, Not zu erfahren: Als Kind musste sie miterleben, wie ihr Vater, der Journalist Curt Frenzel, wegen seiner Kritik am Nazi-Regime von der Gestapo verhaftet wurde, wie er nach der Haftentlassung nur mit Mühe seine Familie ernähren konnte. Als junges Mädchen musste sie aus Sachsen fliehen, auch die Nachkriegszeit war für sie zunächst nicht einfach. Das alles prägte sie und ließ sie immer einen Blick für die Bedürftigen haben. Und da Waigels Ehefrau früher im Kindersozialbereich tätig war, wissen er und seine Frau auch, wie unkompliziert und schnell die Kartei der Not schon immer geholfen hat.

    Heute führen Ellinor Scherer (links) und Alexandra Holland das Werk ihrer Mutter Ellinor Holland mit großer Energie fort.
    Heute führen Ellinor Scherer (links) und Alexandra Holland das Werk ihrer Mutter Ellinor Holland mit großer Energie fort. Foto: Ulrich Wagner, Daniel Biskup; Collage: AZ

    Beeindruckt ist Waigel stets vom Presseball als Benefizgala für die Kartei der Not: Gerade als Schirmherr der Tombola habe er immer wieder beobachten können, dass nicht nur wohlhabende Menschen sich für das Hilfswerk einsetzen, sondern auch Menschen mit weniger Geld: „Die Kartei der Not hat die Menschen in Schwaben erreicht“, sagt er. Besonders gefreut habe sich Ellinor Holland, als Waigel ihre Stiftung in eine Reihe von großen sozialen Einrichtungen wie die Fuggerei und das Dominikus-Ringeisen-Werk gestellt hat. „Und in dieser Reihe sehe ich die Kartei der Not auch.“ Denn genau das sei immer der Wunsch der Gründerin gewesen: Eine dauerhafte Stiftung zu schaffen. Daher hält es Waigel für einen Glücksfall, dass seit dem Tod von Ellinor Holland 2010 ihre beiden Töchter, Ellinor Scherer und Alexandra Holland, das Lebenswerk ihrer Mutter couragiert fortsetzen: „Es ist wichtig, dass die Stiftung von der Familie fortgeführt wird. Diese persönliche Nähe der Verantwortlichen zeichnet die Kartei der Not besonders aus.“

    Und Ellinor Scherer und Alexandra Holland führen mit großer Überzeugung das Leserhilfswerk. Besonders stolz sind sie auch auf ein Projekt, das den Namen ihrer Mutter trägt: Das 2016 eröffnete Ellinor-Holland-Haus in Augsburg. Dort erhalten Menschen in schwierigen Lebenslagen einen geschützten Wohnort. Fast 80 Bewohnerinnen und Bewohner können dort mit pädagogischer Unterstützung bis zu drei Jahre lang Kraft tanken, um gestärkt neu durchzustarten. Auch hier zeigt sich das Motto der Stiftung eindrucksvoll, wie Alexandra Holland und Ellinor Scherer betonen: „Gemeinsam geht’s!“

    Der Caritasverband für die Region Günzburg und Neu-Ulm berät in beiden Landkreisen jährlich mehr als 1000 Menschen in existenziellen Nöten, informiert Geschäftsführer Mathias Abel. Er ist voll des Lobes über die Kartei der Not, mit der die Caritas intensiv zusammenarbeite. „Wenn Menschen in Notlagen sind, hilft die Kartei unbürokratisch und schnell“, sagt Abel. Die Caritas in Günzburg werde von Hilfesuchenden geradezu „überrannt“, es gebe eine Warteliste für die Beratung. Ein Großteil der Hilfsanträge werde bei der Kartei der Not eingereicht.

    Das Ellinor Holland Haus ist ein Angebot für Menschen in schwierigen Lebenssituationen.
    Das Ellinor Holland Haus ist ein Angebot für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Foto: Silvio Wyszengrad

    Das Juni-Hochwasser hat den Caritasverband selbst zu einem Notfall gemacht. „Unser Anwesen in der Zankerstraße wurde komplett zerstört“, sagt Geschäftsführer Abel. Die Dienste und Geschäftsstelle der Caritas kamen in mehreren Räumen in Günzburg unter. Jetzt plant der Verband, der von der katholischen Kirche getragen wird, eine Sanierung des Gebäudes, die wohl rund 2,5 Millionen Euro kosten wird. Um auch die Tafel mit den anderen Angeboten wieder in der Zankerstraße in Günzburg zu etablieren, hat die Caritas einen Hilfsantrag an die Kartei der Not gestellt. Dieser Teil des Gesamtprojekts werde allein etwa 600.000 Euro kosten. Rund 120 Ehrenamtliche versorgen in Günzburg und Burgau Bedürftige mit Lebensmitteln. „Die Menschen brauchen die Tafel dringend, denn sie können sich dadurch Geld sparen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben“, sagt Abel. Rechne man die Angehörigen dazu, werde 500 bis 600 Menschen geholfen. Die Kartei der Not wird den Wiederaufbau mit 350.000 Euro unterstützen. „Ich bin darüber so froh und dankbar, wir würden die Finanzierung ohne die Kartei der Not nicht hinbekommen“, sagt Abel.

    Gemeinsam Gutes tun – das gilt auch für das Seniorenprojekt „Augsburg packt’s“, bei dem Kartei der Not, Malteser-Hilfsdienst und die Caritas für Stadt und Landkreis Augsburg seit über zehn Jahren aktiv sind. Rund 80 Haushalte erhalten einmal pro Monat eine Box mit Grundnahrungsmitteln, auch Extras wie Kaffee und Honig sind dabei. „Für ältere Menschen, die jeden Cent umdrehen müssen, sind diese Pakete ein Highlight“, berichtet Caritas-Geschäftsführer Otto Bachmeier. Dabei gehe es nicht nur um die kostenlosen Lebensmittel – auch der persönliche Kontakt werde extrem geschätzt. „Das Leserhilfswerk ist ein wichtiger und verlässlicher Partner, um Hilfe dort hinzubringen, wo sie wirklich nötig ist“, lobt Bachmeier.

    Der Förderbedarf bei Kindern und Jugendlichen ist deutlich gestiegen

    Der frühere Leitende Redakteur Jörg Sigmund hat ein Jahrzehnt im Kuratorium des Leserhilfswerks mitgearbeitet. „Mich haben viele erschütternde Geschichten betroffen gemacht“, sagt der 69-Jährige. Er habe nicht damit gerechnet, „dass es in einem wohlhabenden Land wie Deutschland so viel Altersarmut gibt“. Die Prüfung der Hilfsanträge habe sein Gespür für die Not anderer erweitert. Die Stiftung sei seit Jahrzehnten eine hervorragende Institution. Das Ellinor-Holland-Haus nennt Sigmund „herausragend“ und „deutschlandweit einmalig“.

    „Die Arbeit im Team des Hilfswerks empfinde ich als sehr bereichernd, denn man lernt fürs Leben“, sagt Mitarbeiterin Christine Kuchenbauer. Mit gut 5000 Einzelanträgen war die gelernte Kauffrau und Heilerziehungspflegerin aus Dillingen bislang befasst. Viele Fälle gingen der 63-Jährigen zu Herzen – vor allem, wenn Kinder betroffen waren. „Da merkt man, welche Schicksale es in unmittelbarer Nähe gibt. Und man merkt, welches Glück man selbst bislang hatte.“ Stets gerührt haben sie die Dankschreiben von Familien. Wertschätzung komme aber auch oft von den Beratungsstellen, die die Hilfsanträge namens der Betroffenen stellen und die vorab die Bedürftigkeit einschätzen.

    Wie groß die Not der Kinder ist, erfährt Sigrun Maxzin-Weigel tagtäglich. Seit 22 Jahren leitet sie das evki in Augsburg, das seither ständig weitere ambulante und stationäre Betreuungsplätze schaffen musste. Viele der jungen Menschen, die über das Jugendamt zu ihnen kommen, haben schwerste Gewalt in jeglicher Form erlebt, erzählt Maxzin-Weigel. „Und immer mehr Kinder kommen zu uns, weil ein Elternteil schwer psychisch krank ist.“ Auch steige der Förderbedarf bei Kindern und Jugendlichen deutlich, nicht wenige sind schwer traumatisiert. „Dass uns die Kartei der Not immer hilft, ist wahnsinnig wichtig für uns. Ob es etwa darum geht, Ausflüge zu finanzieren, Brillen, Möbel, Weihnachtsgeschenke oder unseren Hochseilgarten – wir wissen, die Kartei der Not ist ein zuverlässiger Partner.“

    Wie nachhaltig diese Hilfe ist, wird im Gespräch mit den jungen Leuten klar: Alle drei sind auf einem guten Weg. Der fußballbegeisterte Zwölfjährige, dessen Oma auf der Flucht aus Syrien im Mittelmeer ertrunken ist, kam vor zwei Jahren als unbegleiteter Geflüchteter ins evki. Heute spricht er super deutsch, führt stolz durch die Räume seiner Wohngruppe und will Fußballer oder Ingenieur werden. Die 17-jährige, die viel Gewalt im Elternhaus erlitten hat, will auf die Fachoberschule gehen und als Heilerziehungstherapeutin arbeiten. Wie beim evki, wo viele Hunde therapieunterstützend eingesetzt werden, will auch sie später einen Therapiehund. Sie habe hier wunderbare Betreuerinnen und Therapeuten erlebt – diese Erfahrung will sie auch an andere weitergeben, die wie sie viel durchgemacht haben.

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