Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken: Es ist das Jahr 2010. Der Ruf des Eurovision Song Contest ist damals schwer ramponiert in Deutschland, nach den Plätzen 20, 23, 19, 14, 24. „In Zeiten der Krise und der negativen Schlagzeilen fehlt es den Deutschen an einer positiven Identifikationsfigur“, diagnostiziert eine Journalistin. Ein Ruck muss her (von „Disruption“ spricht 2010 niemand), und für Rucke ist Stefan Raab zuständig. Der macht erfolgreich Quatsch und Musik und Quatschmusik („Maschen-Draht-Zaun“), vor allem hat der Entertainer beim „größten Musikwettbewerb der Welt“, so der SWR, schon das gehabt, was dringend vonnöten ist: Erfolg. Sogar im Plural: Erfolge. 1998 mit Guildo Horn als Komponist und Produzent (Platz 7), 2000 als Sänger (Platz 5), 2004 mit Max Mutzke als dessen Entdecker und Songautor (Platz 8).
Stefan Raab findet 2010 Lena Meyer-Landrut – der Rest ist Geschichte
Der Ruck kommt in Gestalt einer Premiere: Erstmals kooperiert der öffentlich-rechtliche Rundfunk für den deutschen Vorentscheid mit einem Privatsender, ProSieben, und dessen Star: Stefan Raab. Im Februar 2010 startet „Unser Star für Oslo“. Eine, im Unterschied zu „Deutschland sucht den Superstar“, Wohlfühl-Castingshow. „Jurypräsident“ Stefan Raab gibt den Anti-Bohlen und sucht tatsächlich und glaubwürdig ein musikalisches Talent. Er findet es in der noch 18-jährigen Lena Meyer-Landrut. Die begeistert mit ihrem sonderbaren Englisch und ihrer fröhlichen Unbekümmertheit das Land, der Rest ist Geschichte: Platz 1 im ESC-Finale am 29. Mai 2010. Deutschland strahlt wieder. Nach ein bisschen Frieden: ein bisschen Leichtigkeit.

Ein strahlendes Deutschland, das klingt in diesen Vor-Bundestagswahl-Tagen absurd. Aber bitte: 2010 schrieb der Autor dieses Textes: „Ein Top-Ten-Platz scheint für Lena möglich, ein Platz unter den besten Drei käme einem Wunder gleich. Doch Wunder gibt es ja immer wieder.“ Daran glaubt offensichtlich auch die ARD und versucht sich an einer Wiederholung des Jahres 2010. Kooperation mit Privatsender, Auswahlshows – und Stefan Raab.
„Chefsache ESC 2025“: Ist das nun Chuzpe, Realitätsverlust oder Bankrotterklärung?
Selbst die Jurybesetzung der ersten Show am Valentinstags-Freitag – zwei weitere folgen am 15. und 22. Februar, alle ab 20.15 Uhr auf RTL – gleicht der von 2010. Bereits damals gehörte Sängerin Yvonne Catterfeld dazu. Wer Deutschland im ESC-Finale am 17. Mai in Basel vertreten wird, entscheiden die Zuschauerinnen und Zuschauer dann in der vierten Show am 1. März im Ersten. Titel der ESC-Wiederbelebungs-Aktion: „Chefsache ESC 2025 – Wer singt für Deutschland?“ Chef Raab hat aus mehr als 3000 Bewerbungen 24 Teilnehmer ausgesucht, darunter die Bands Feuerschwanz aus Nürnberg und Cosby aus München.
Klar, Raab soll's richten! Weil es der in der ARD beim ESC federführende Hamburger NDR seit Jahren nicht hinbekommt und die Verzweiflung nach diversen Regel- und Konzeptänderungen noch im Süden Deutschlands zum Greifen ist. ARD-Programmdirektorin Christine Strobl sagte: „Unser Ziel ist und bleibt der Sieg. Wir denken nicht darüber nach, was passiert, wenn es nicht klappt.“ Ist das nun Chuzpe, Realitätsverlust, Bankrotterklärung oder alles zusammen? Einfach darauf zu setzen, dass schon alles gut wird, wenn man es sich einredet und sich komplett selbst kopiert? Der vermeintliche ESC-Erlöser Stefan Raab tut das seit seinem Comeback im vergangenen September, das sich aus seinen Showideen von einst speist. Mit durchwachsenem Erfolg. Fest steht immerhin: Nach fast 30 Jahren gibt der NDR seine Zuständigkeit auf, von 2026 an wird die Verantwortung für den Eurovision Song Contest vom musikalischen Fischbrötchen zu Spätzle wechseln, denn es übernimmt der SWR. Fest steht auch, dass Barbara Schöneberger die deutschen Vorentscheid-Shows moderiert. Alles also wie gehabt.
"Germany one point; L'Allemagne marque un point" Was Deutschland in den letzten Jahren als Teilnahmesong ausgewählt und zur Abstimmung brachte, ist nicht mal diesen einen Punkt wert.
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