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Radunfälle auf Landstraßen: Warum Senioren mit E-Bikes besonders gefährdet sind

Verkehrsunfälle

Wenn die Landstraße für Radfahrer zum tödlichen Risiko wird

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    Auch dem Fahrer dieses Elektrofahrrads wurde das Überqueren einer Landstraße zum Verhängnis. Beim Zusammenprall mit einem Auto wurde er lebensgefährlich verletzt.
    Auch dem Fahrer dieses Elektrofahrrads wurde das Überqueren einer Landstraße zum Verhängnis. Beim Zusammenprall mit einem Auto wurde er lebensgefährlich verletzt. Foto: Kamera24, Imago

    Protokolle von Polizeibeamten können so nüchtern wie kryptisch klingen. „Pedelec, weiblich, 79 Jahre“, heißt es in der Überschrift eines Falles. In drei anderen: „Pedelec, weiblich, 77 Jahre“, „Pedelec, männlich, 85 Jahre“, „Pedelec, männlich, 81 Jahre“. Die grausame Wahrheit ist, dass damit tödliche Radunfälle gemeint sind – also vier menschliche Schicksale. Und immer geht es, wieder in der Sprache der Bürokratie, um Unfallkategorie 1 und Unfalltyp 3. Was bedeutet: Mutmaßlich haben die Radfahrerinnen und Radfahrer den jeweiligen Unfall beim Kreuzen einer Straße verursacht.

    Die Unglücksfälle haben sich in den vergangenen Jahren im ländlich geprägten Oberschwaben ereignet. Die beiden Frauen wollten ihren Ehemännern beim Queren einer Landstraße folgen. Die 79-Jährige wurde frontal von einem Auto erfasst und über die Motorhaube geschleudert. Die 77-Jährige wurde von einem Fahrzeug gestreift, stürzte und zog sich tödliche Kopfverletzungen zu.

    Seit zehn Jahren steigt die Zahl der tödlichen Fahrradunfälle wieder

    Im Vergleich zu 1980 ist die Zahl der getöteten Radfahrer in Deutschland stark gesunken. Damals kamen rund 1300 Menschen ums Leben, für 2024 hat das Statistische Bundesamt 441 Tote gezählt. Allerdings sind die Zahlen in den vergangenen zehn Jahren wieder gestiegen. Das zeigt unter anderem eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (GDV) aus dem vergangenen Sommer. So ist die Zahl der Radfahrer, die auf Landstraßen ums Leben kommen, zwischen 2013 und 2023 um 37 Prozent nach oben geklettert. Auch die Zahl der dort schwer verletzten Radfahrer liegt für denselben Zeitraum um 29 Prozent höher. Und: 2023 kamen 189 Radfahrer auf Landstraßen ums Leben, das entspricht einem Anteil von 42 Prozent aller tödlich verunglückten Radler.

    Gefährlich sind besonders Kreuzungen, etwa wenn ein Feldweg eine Landstraße quert. Dort ereignen sich 68 Prozent der schweren Unfälle. Die mit tödlichem Ausgang werden nach Angaben der Polizei meist von den Radfahrern verursacht. Und häufig sitzen Seniorinnen und Senioren auf dem Rad: Bei zwei Dritteln der tödlichen Unfälle ist das der Fall. In den vier zu Beginn vorgestellten Fällen missachteten die Radfahrer das Verkehrszeichen 205: Vorfahrt gewähren. Sie schafften es nicht, rechtzeitig vor dem nächsten Auto die Straße zu queren.

    Das wirft Fragen auf: Können Radfahrer Risiken nicht richtig einschätzen? Sind E-Bikes, die immer breiter werden und schwieriger zu bedienen sind, das Problem? Die Verkehrsinfrastruktur? Wie kann Radfahren für Senioren sicherer werden? Fest steht: Neue Radwege verhindern nur bedingt schwere Unfälle. Das gilt besonders für das Überqueren einer Landstraße.

    Matthias Zimmermann (54) hat Radunfälle mit Todesfolge für Baden-Württemberg genauer analysiert. Der Verkehrsingenieur leitet die Abteilung Straßenentwurf und -betrieb am Institut für Straßen- und Eisenbahnwesen am Karlsruher Institut für Technologie. Seine Forschung konzentriert sich seit einigen Jahren auf Radverkehrssicherheit; außerdem ist er Landesvorsitzender des Fahrrad-Clubs ADFC in dem Bundesland. Die Ergebnisse seiner Analyse lassen sich zwar nicht auf ganz Deutschland übertragen. Jedoch ereignen sich Unfälle der Kategorie 1 – Radfahrer verursacht einen Einbiegen-Kreuzen-Unfall – oft auch in anderen Bundesländern. In Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen etwa dominiert dieser Unfalltyp, er macht mehr als die Hälfte der Getöteten auf Landstraßen aus.

    Häufig sind Menschen, die älter als 65 Jahre sind und ein Pedelec fahren, Hauptverursacher der tödlichen Unfälle

    Matthias Zimmermann nennt die Altersstruktur bei den tödlichen Radunfällen außerhalb von Ortschaften „bemerkenswert“. Häufig sind Menschen, die älter als 65 Jahre sind und ein Pedelec fahren, Hauptverursacher. Und gleichzeitig Opfer. Von 147 Radfahrern, die zwischen 2017 und 2022 außerhalb der Ortsschilder tödliche Unfälle verursacht haben, sind gut 70 Prozent älter als 65 Jahre. Die Zahl ist bezogen auf das Pedelec, beim normalen Fahrrad liegt sie etwas niedriger. Nimmt man nur Räder mit Elektroantrieb, verursachen Menschen über 65 Jahre gut 80 Prozent aller Einbiegen-Kreuzen-Unfälle. 40 Prozent von ihnen sind sogar älter als 80 Jahre. Es zeigt sich ein Muster: Wenn Senioren mit einem Pedelec eine Landstraße kreuzen wollen, besteht ein erhöhtes Unfallrisiko.

    Wenn Menschen im hohen Alter wieder anfangen, Rad zu fahren, kauften sie sich häufig ein Fahrrad mit Elektroantrieb, sagt Matthias Zimmermann im Videogespräch. E-Bike ist im Alltag der Überbegriff für verschiedene Arten von Elektrorädern; 90 Prozent der E-Bikes sind Pedelecs. Diese Räder verfügen über eine Tretunterstützung bis 25 Stundenkilometer.

    Für Senioren sei es schwierig, „die Situation hinzubekommen“, also eine Lücke auf einer Landstraße zu finden, sagt Zimmermann. Der Forscher hat sich mehrere Unfall-Kreuzungen genauer angeschaut. „Das Überraschende ist, dass es keine baulichen Kreuzungen sind: Ein Wirtschafts- oder Waldweg kreuzt die Straße, da plant man nicht groß.“ Es sei trotzdem wahrscheinlich, dass dort viele Radfahrer kreuzen. An solchen Stellen herrsche mindestens Tempo 70, eher 100.

    Für Seniorinnen und Senioren sei es außerdem schwierig, ihr Pedelec im richtigen Moment in Gang zu bekommen. Es sei naheliegend, dass Senioren mit dem Handling Probleme haben. „Aber nur zu sagen, dass die Alten nicht fahren können, greift zu kurz.“ Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann sagte letztens der Süddeutschen Zeitung: „Als Radfahrer sollte ich mich schon fragen: Wie kann ich Risiken reduzieren?“ Klar sei es sei besser, wenn man geübter ist, sagt auch Matthias Zimmermann. Und man sollte nicht blind auf den Vordermann vertrauen, sondern die Situation selbst einschätzen. „Immer wieder fahren Frauen ihren Männern hinterher, ohne nach links und rechts zu schauen.“

    Verkehrspsychologin Susann Richter sagt: Die Routine und der Automatismus beim Radfahren müssen wieder in Gang kommen

    Elektrounterstütztes Fahren unterscheidet sich stark vom herkömmlichen Radfahren. Deshalb gibt es Pedelec-Kurse. Sie sollen das subjektive Sicherheitsgefühl steigern. Auswertungen zeigen, dass Teilnehmer nach dem Kurs öfter Rad als vorher fahren, teilweise setzen sie das Rad auch auf Strecken ein, die sie vorher etwa mit dem Auto absolviert haben. In den Kursen machen Teilnehmer, die mehrheitlich Frauen und älter als 60 Jahre sind, Fahrtechnik-Übungen. Sie schulen damit ihre Koordination und Reaktion, sie lernen richtig zu bremsen, sicher auf- und abzusteigen, passend anzufahren, abzubiegen und Kurven zu fahren. Ein E-Bike sei zwar nicht unbedingt unfallanfälliger, jedoch verleite es dazu, sich auf den Motor zu verlassen, sagt ein Experte.

    Dass die höhere Geschwindigkeit herausfordert, weiß auch Verkehrspsychologin Susann Richter (60). Sie forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Verkehrspsychologie der Technischen Universität Dresden. Fahrrad fährt sie ab und zu, ohne Elektroantrieb. „Man sagt zwar immer: Radfahren verlernt man nicht, aber das ist nicht ganz richtig. Die Routine und der Automatismus müssen wieder in Gang kommen. Mit einem Pedelec hat man eine viel kürzere Reaktionszeit, weil man schneller unterwegs ist.“ Das Fahrzeug müsse man sehr gut im Griff haben. „Wenn in einer kritischen Kreuzungssituation unklar ist, wie ich das Pedelec bediene, dann ist das gefährlich.“

    Vielerorts werden inzwischen E-Bike-Kurse für Seniorinnen und Senioren angeboten.
    Vielerorts werden inzwischen E-Bike-Kurse für Seniorinnen und Senioren angeboten. Foto: Caroline Seidel, dpa

    Aus verkehrspsychologischer Sicht lassen Wahrnehmung und kognitive Fähigkeiten mit dem Alter nach. Senioren könnten zwar auf Erfahrung und Wissen zurückgreifen, aber das reiche nicht mehr aus, da sich der Straßenverkehr ständig verändere, sagt Susann Richter. „Es müssen viele Informationen zusammen aufgenommen werden, und da haben ältere Menschen Schwierigkeiten, besonders bei der schnellen Verarbeitung.“ Bei Senioren könnten auch Probleme bei der Inhibitionskontrolle auftreten. Sprich: Sie schaffen es nicht, das einmal begonnene Queren einer Straße abzubrechen – etwa wenn die Situation wider Erwarten gefährlich wird.

    Susann Richter rät Senioren, einen Pedelec-Kurs zu machen und sich selbst einzuschätzen, ob sie Probleme in der Wahrnehmung haben. Notfalls sollten sie zum Arzt gehen und Sehhilfen anpassen lassen. „Sie müssen sich auch hinterfragen, ob sie motorisch in der Lage sind, das Fahrrad oder Pedelec zu balancieren, sich dabei umzudrehen und einhändig zu fahren.“ Es gebe häufig eine Diskrepanz zwischen dem Selbst- und Fremdbild. „Radfahrer meinen, dass sie das alles noch gut können, aber das ist meist in der Realität nicht so.“ Wichtig sei, sich ein Feedback von der Familie oder Freunden einzuholen. Senioren könnten auch Schwächen kompensieren, indem sie nicht bei Dunkelheit und Regen fahren oder gefährliche Strecken meiden. Sie sollten Radwege nutzen und nicht auf der Straße fahren, an Querungsstellen sollten sie absteigen und dort als Fußgänger unterwegs sein.

    Die Ideallösung wäre eine Unterführung für Fahrradfahrer

    Die Unfallforschung der Versicherer empfiehlt in ihrer Studie, vorhandene Radwege auszubauen und neue Radwege anzulegen. Matthias Zimmermann stimmt prinzipiell zu, sie seien für das subjektive Sicherheitsgefühl wichtig – und um Menschen zum Radfahren zu motivieren. „Doch auch neue Radwege können typische Einbiegen-Kreuzen-Unfälle nicht verhindern, weil es ums Queren geht.“ Andere bauliche Veränderungen, etwa eine Mittelinsel oder Ampel, seien geeigneter. Das Problem an einer Verkehrsinsel ist, dass man die Straße verbreitern müsste. Dazu ist es häufig nötig, Land von Privatpersonen zu erwerben und zugleich den Naturschutz zu berücksichtigen.

    Die Ideallösung ist eine Unterführung, eine Metallröhre reicht aus. „Das macht man aber höchstens bei einem eine Landstraße kreuzenden Radschnellweg oder dort, wo es sich ergibt.“ Eine andere Möglichkeit wäre, das Tempolimit von 100 auf 70 zu verringern. Falls es denn eingehalten wird.

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    1 Kommentar
    Franz Xanter

    Pedelecfahren ist kompliziert! Kaum einer ist in der Lage, insbesondere die ältere (ungeübte?) Generation, Geschwindigkeit und Einfachheit gegenüber dem normalen Radfahren richtig einzuordnen und folglich zu reagieren. Und dann wundert man sich, wenn es wieder Unfälle der insbesondere älteren Leute mit ihrem Pedelec gibt.

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