
Was das Grundgesetz von der Corona-Politik verlangt

Ein pauschaler Dauerlockdown trotz niedriger Infektionszahlen ist verfassungswidrig. Der Kampf gegen die Pandemie ist nicht nur eine politische Sache. Ein Gastbeitrag.
Die Politik vermittelt den Eindruck, als sei die Bekämpfung der Pandemie eine ausschließlich politische Angelegenheit. Das ist in einem Rechtsstaat, in dem Grundrechte das zentrale Versprechen an den Bürger sind, allenfalls die halbe Wahrheit. Das Grundgesetz sagt: Die Regierung ist „an Gesetz und Recht“ sowie an die Grundrechte gebunden. Wenn im Vorfeld der morgigen Corona-Runde so getan wird, als sei man politisch frei, die Verlängerung des Lockdowns zu beschließen, so überschätzen die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten ihre Legitimation.
Von limitierender Bedeutung ist zunächst das Infektionsschutzgesetz. Dieses ermächtigt zwar zu weitreichenden Eingriffen – aber eben nicht zu maßlosen und zeitlich unbegrenzten. Im Gesetz ist die Inzidenz von 50 (Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner) festgeschrieben. Nur bei deren Überschreiten sind umfassende Schutzmaßnahmen im Sinne eines Lockdowns zulässig. Die Regierung kann diesen Wert nicht einfach ändern oder durch eine andere Bezugsgröße, etwa den R-Wert, ersetzen. Ein pauschaler Dauerlockdown trotz dauerhafter Inzidenz von unter 50 wäre rechtswidrig.
Das Grundgesetz errichtet Hürden gegen repressive Politik
Vor allem das Grundgesetz errichtet Hürden gegen eine zu repressive Corona-Politik. In unserem Rechtsstaat gilt der Primat der Verfassung. Grundgesetz und bayerische Verfassung stehen nicht unter einem Pandemievorbehalt. Vier Aspekte sind wichtig:
Erstens verpflichtet das Grundgesetz zum Schutz von Gesundheit und Leben. Der Staat muss und kann indes nicht jeden Einzelnen vor Krankheit und Tod schützen; sonst müsste er Autofahren, Risikosportarten, Hochprozentiges und Tabakwaren verbieten sowie regelmäßige ärztliche Vorsorgeuntersuchungen anordnen. Der freiheitliche Rechtsstaat geht davon aus, dass der Einzelne sich selbst schützt und für seine eigene Gesundheit sorgt. Erst wenn das nicht oder nur unzureichend möglich ist, ist der Staat zu Schutz und Unterstützung verpflichtet.

So ist es bei Corona: Man kann sich allein nicht wirksam vor Corona schützen – so wie man sich etwa vor UV-Strahlung schützen kann. Denn zum Alltag gehören unvermeidbare menschliche Kontakte mit Infektionsrisiko. Daher sind staatliche Vorgaben zum Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus angesichts dessen potenzieller Gefährlichkeit und nicht hinreichend absehbarer gesundheitlicher Folgeschäden (hier liegt ein zentraler Unterschied zur Influenza!) verfassungsrechtlich zulässig: Abstands- und Maskenpflicht, Hygieneroutinen sowie Kontaktreduzierungen. Das sollte unstreitig sein.
Manches Heim hat sich als Corona-Todesfalle erwiesen
Insbesondere vulnerable ältere und kranke Menschen in und außerhalb von Wohn- und Pflegeeinrichtungen können sich nicht alleine schützen. Deswegen muss der Staat Maßnahmen zu ihrem Schutz ergreifen. Dies tut er in doppelter Weise: Zum einen durch allgemeine Maßnahmen zur Senkung der Corona-Inzidenz insgesamt. Ist diese niedrig, werden dadurch und durch die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems auch die vulnerablen Personen geschützt. Zum anderen durch besonderen Schutz der Alten- und Pflegeeinrichtungen, in denen die Menschen dem Virus schutzlos ausgeliefert sind. Hier ist offensichtlich bislang zu wenig geschehen.
Manches Heim hat sich geradezu als Todesfalle erwiesen. Erst im Dezember 2020 wurde etwa in Bayern eine regelmäßige Testpflicht für das Personal eingeführt. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Repressive Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen in der Gesamtbevölkerung sind notwendig. Sie entbinden den Staat jedoch nicht davon, alles Erforderliche zum Schutz der besonders vulnerablen Menschen zu tun. Der Einwand, die Bevölkerung würde sich bei effektivem Schutz der vulnerablen Personen nicht mehr an die allgemeinen Maßnahmen halten, ist ebenso zynisch wie absurd.
Die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zählt auch
Zweitens verlangt das Grundgesetz Verhältnismäßigkeit. Kaum wirksame Maßnahmen bei maximalem Freiheitseingriff sind unverhältnismäßig. Auch die (vor allem psychische) Gesundheit der Kinder und Jugendlichen ist in die Waagschale zu werfen, wenn man Schulen und Kitas monatelang schließt, ebenso wie die wirtschaftliche und soziale Stabilität unseres Landes in den Entscheidungsprozess einzubeziehen ist. Hierfür zeigt die Politik wenig Sensibilität. Doch das Grundgesetz sagt selbst: Die Gesundheit steht nicht über allem. Abwägung ist möglich und geboten.

Drittens fordert das Grundgesetz Differenzierung. In der Krise wird man zwar Abstriche bei der Einzelfallgerechtigkeit machen müssen. Angesichts von Unsicherheiten (etwa hinsichtlich der Virusmutationen) darf der Staat durchaus mit Pauschalierungen arbeiten, was zwangsläufig zu mancher Ungereimtheit führt. Dies stellt die Politik aber nicht davon frei, sich um sachgerechte Differenzierungen nach Regionen und Lebensbereichen wenigstens zu bemühen. „Gleiche Unfreiheit für alle dauerhaft“ ist kein verfassungsrechtlich zulässiges Krisenmantra. „So viel Freiheit wie möglich und vertretbar“ lautet die Forderung des Grundgesetzes.
Das ist anstrengend und fordert kreative Konzepte, etwa im Einzelhandel, in Bildungs-, Kultur- oder Sporteinrichtungen sowie bei Gaststätten und anderen Dienstleistern – mit kluger, online-gestützter Steuerung und effektiven Hygienearrangements einschließlich deren Kontrolle und Evaluierung. Demgegenüber ist der dumpfe, undifferenzierte Dauerlockdown eine leichte, fantasielose Übung. Politiker, deren eindimensionaler Blick und immer gleiche Rhetorik sich auf ein perspektivloses „Alles geschlossen“ verengen, müssen sich einen auch verfassungsrechtlich prekären „Hang zur geistigen Bequemlichkeit“ (Die Zeit) entgegenhalten lassen.
Die Tiefkühlung des Landes bringt Kollateralschäden mit sich
Es ist auf dem politischen Parkett üblich geworden, immer nur zu sagen, was nicht möglich ist, nicht aber, was möglich ist. Schon gar nicht geht es an, der Zivilgesellschaft den Diskurs über alternative Konzepte verbieten zu wollen. Stereotyp wiederholte Denk- oder Sprechverbote wie „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Lockerungen zu diskutieren“ tragen einen undemokratischen Kern in sich. Teilnehmer des politischen und gesellschaftlichen Diskurses sollten schon noch selbst entscheiden dürfen, worüber sie diskutieren. Die Versuche mancher Politiker zur Diskurssteuerung sind eine besonders unangenehme und verfassungsrechtlich inakzeptable Nebenwirkung der aktuellen Corona-Politik.

Was also muss man aus der Sicht des Grundgesetzes vom Bund-Länder-Gipfel erwarten? Keine einfallslose Verlängerung der gegenwärtigen Tiefkühlung des Landes mit exponentiell wachsenden Kollateralschäden, sondern einen Dreiklang aus Eindämmung, Schutz und Kreativität: Wirksame und angemessene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind zeitlich begrenzt aufrechtzuerhalten. Der Verbesserung des Schutzes der vulnerablen Menschen ist noch mehr Augenmerk zu widmen. Drittens bedarf es eines kreativen und inhaltlich wie zeitlich konkreten Plans zur allmählichen Entschärfung der massiven Freiheitsbeschränkungen. Die dauerhafte Fortführung des Status quo wird jedenfalls bei weiter sinkenden Inzidenzen verfassungswidrig.
Zum Autor: Prof. Dr. Josef Franz Lindner, 54, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg.
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Danke für Ihren Artikel, der zurechtrückt, was durch eine politisierte Judikative, die Gefälligkeitsurteile für die Politik gefällt hat, an Vertrauen zerstört worden ist.
Nur in einem Punkt erlaube ich mir, Ihnen zu widersprechen. Niemand bestreitet, daß eine FFP2-Maske dort sinnvoll ist, wo der Sicherheitsabstand definitiv nicht eingehalten werden kann, wie in öffentlichen Verkehrsmitteln. Wer Angst hat, wer sich gefährdet glaubt oder es auch wirklich ist, weil er zur Risikogruppe gehört, der soll und muß mehr Abstand halten und seine Atemwege weiter effektiv schützen. Aber genau diese wirklich gefährdeten, vulnerablen Gruppen zu schützen, hat die Regierung versäumt. Kostenlose FFP-2, Taxigutscheine für Arztbesuche und Einkaufen, Schnelltests für Angehörige und Besucher und vor allem Aufstockung des Personals wären im April/Mai angesagt gewesen. Aus den Empfehlungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte geht hervor, daß wirksame Selbstschutzmasken seit Beginn der Pandemie existierten als auch, daß es schon seit Mai keinerlei Versorgungsengpass bei ihnen gab. Deshalb waren und sind sie das geeignetere, verhältnismäßigere und mildere Mittel, die Pandemie zu bekämpfen, als ein genereller Zwang für alle, Masken zu tragen, deren Fremdschutzqualitäten strittig sind, die nicht mehr leisten als ein angemessener Abstand von 1 -2 m und die im Freien ohnehin sinnlos und überflüssig sind.
Dieser Gastbeitrag ist qualitativ sehr gering und zeigt überhaupt keine Alternativen zu einem Lockdown auf. Auch sind wir noch überhaupt nicht in der Nähe von 50 aif 100 000 Menschen. Momentan verlangsamt sich die Rückwärtsbewegung arg und es dauert sicherlich noch 14 Tage bis wir die 50 erreichen könnten. Sollte nächste Woche alle Forderungen von Aiwanger und Co. nachgegeben werden, sind wir an Ostern locker wieder über den Wert von 100. Und was dann? Laufen lassen? Aber immer dran denken, tot ist tot und dann sollten Aiwanger und Co. bitte die Verantwortung übernehmen. Mit einem Rücktritt und einer Entschuldigung ist es aber dann nicht getan.
Was soll denn das für ein Kommentar sein.
n dem Beitrag geht es doch auch gar nicht darum, dass Alternativen aufgezeigt werden.
Es geht in diesem Beitrag einzig und allein um die Tatsache, dass die Politik mit diesen aktuell sinkenden Zahlen, keine bzw. nur noch sehr eingeschränkte Möglichkeiten hat, gesetzeskonform die Verlängerung des Lockdowns zu rechtfertigen.
Und in dieser Hinsicht hat der Verfasser dieses Artikels vollkommen korrekte Aussagen getroffen.
Die Politik hat sich Gesetze geschaffen, die es ihnen ermöglicht, Eingriffe in die Grundrechte der Bürger vorzunehmen.
Jedoch hat sich sich im selben Gesetzt auch Auflagen gemacht, bis zu welchem Punkt sie hier gehen können und ab wann sie derartige Maßnahmen der Beschränkungen nicht mehr beschließen können.
Und in dieser Hinsicht hat der Verfasser vollkommen korrekt geschrieben und man kann diesen getroffenen Aussagen nur beipflichten.
P.S.
Und ich glaube NIEMAND fordert, dass ALLE Maßnahmen sofort zurückgenommen werden.
Aber eben diesen Eindruck machen die Politiker, dabei gilt keine Ausnahme, dass gefordert wird, ALLE Beschränkungen aufzuheben.
Es wird immer davon gesprochen, Lockerungen in kleinern Schritten vorzunehmen, wo dieses möglich ist.
Und es gibt bereits sehr viele Städte, Gemeinden und Landkreise, die eben diesen Wert von 50 unterbieten.
Und damit vesrößt die Politik hier gegen das von ihnen selbst verfasste Gesetz und das Grundgesetz.
"Dieser Gastbeitrag ist qualitativ sehr gering "....................
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Der Beitrag von PROF. DR. JOSEF FRANZ LINDNER ist der beste Beitrag über Corona, den ich seit langem in der Augsburger Allgemeinen gelesen habe !!
Wenn ich das so lese, muß man feststellen, daß die Politiker das Grundgesetz nicht kennen oder bewuißt, in krimineller Art und Weiose, dagegen verstoßen haben. Zitat: "Das ist anstrengend und fordert kreative Konzepte, etwa im Einzelhandel, in Bildungs-, Kultur- oder Sporteinrichtungen sowie bei Gaststätten und anderen Dienstleistern". Nix - alles Monate über einen Kamm geschert.
Im Großen und Ganzen Zustimmung. Herr Lindner differenziert gut und zeigt die Problematiken auf.
Und trotzdem möchte ich ihm in einigen Punkten widersprechen. Ja, sicher muss Diskussion möglich sein, nur dass Diskussion kein einziges Problem löst (weshalb ich die Forderung, dass alle Maßnahmen im Parlament abgesegnet werden müssten -Bund und 16 Länderparlamente - für abwegig halte, gemacht wird sowieso, was die Regierunsmehrheit wünscht) , dafür aber Unzufriedenheit schafft und größer werden lässt. Nein, ich bin nicht der Ansicht, dass die Unzufriedenheit aus dem Umstand erwächst, dass Diskussionen unterdrückt würden. Vielmehr fördern die Diskussionen Zweifel. Und in politischen Gremeine wird, wir wissen das ja, keineswegs nur sachorientiert argumentiert sondern das gesagt, was man meint, dass der Wähler, der nun bald an die Wahlurnen gerufen wird, hören will.
Die vom Lockdown besonders Betroffenen, haben naturgemäß eine völlig andere Sicht auf die Dinge als andere, deren Alltag fast uneingeschränkt weiter läuft, die sich aber besonderen gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt sehen.
Der Handel fordert fordert fordert und erklärt gleichzeitig, dass ihm mit einem Hin und Her nicht gedient sei, weil er Planungssicherheit bräuchte. Genau diese kann ihm die Politik aber nicht geben, weil ohne Lockdown liegt es völlig im Dunkeln und in der Hand der Bürger, wie diszipliniert sie sich verhalten, wie sich die Zahlen (vor allem unter der Mutation) entwickeln.
Es ist auch so, dass ständig von den super Hygienekonzepten geredet wird, nur wird jeder, der im letzten Jahr in Restaurants, Cafés, Wirtschaften war bestätigen können, dass es damit nicht soo weit her war, bzw. dass es zumindest recht unterschiedlich gehandhabt wurde. Darüber hinaus waren manche Hygienekonzepte (Fitnesscenter in denen bei der Ausführung der Übung am Gerät keine Maske getragen werden musste) mehr als fragwürdig. Auch bei Einzelhandelsgeschäften, die zwar nur eine bestimmt Anzahl von Kunden einlassen durften, in denen aber keiner überprüfen konnte, wo die sich in welcher Form zusammenballen und keine Abstände einhalten.
Alle betonen, dass bei ihnen kein großes Infektionsgeschehen stattfände. Mag sein, aber in der Summe ist es dann eben doch zuviel.
Sicher wäre es noch wirksamer und würde die Zahlen schneller sinken lassen, es würden auch die Lebensmittelläden geschlossen. Ein vollkommener Lockdown mit kompletter Ausgangssperre, wie es ihn in Wuhan beispielsweise gab. Die Versorgung übernimmt die Armee mittels Lebensmittelpaketen. Dann braucht sich auch kein Händler mehr über Sonderbehandlung zu beklagen und Paketzustellungen gibt es natürlich auch nicht mehr.
Schnellste Eindämmung und damit schnellere Wiederöffnung, das geht aber nur mit maximalen Grundrechtseingriffen. Die Quadratur des Kreises also.
Bislang lotete man eben aus, mit welchen Maßnahmen man sich so einigermaßen durch die Pandemie lavieren könne, bis ein Impfstoff verfügbar wäre. Das gelang mal besser (im Sommer, weil den das Virus nicht so mag) und mal schlechter (im Herbst als man meinte, ein Lockdown Light wäre ausreichen).
Die Situation wird sich erst wirklich entspannen, wenn der Impfstoff hält was er verspricht und eine hinreichend große Anzahl an Bürgern geimpft sein wird. Vorher wird es bei Trial and Error bleiben.