Der Roggenmarkt von Zhytomyr liegt breit und weitläufig unter der gleißenden Nachmittagssonne. Hier wird schon lange kein Roggen mehr gehandelt, aber wie so oft ist der Name geblieben. Die Bürger dieser Stadt kaufen hier so ziemlich alles, was das Herz begehrt, und das günstiger als im schicken Einkaufszentrum „Global“ ein paar Straßen weiter. Es gibt ganze Gassen nur für Blumen, nur für Bekleidung, für Haushaltswaren, Gartengeräte und vieles andere, und dazwischen immer wieder Friseure, Maniküre, Parfumläden, Telefongeschäfte und Fressbuden. Eine Schawarma, grob vergleichbar mit einem Döner, kostet hier rund zwei Euro, schmeckt hervorragend und hält satt bis zum Abend. Die Menschen flanieren, kaufen, treffen sich. Jugendliche treiben Unfug, zum Beispiel fahren sie mit E-Scootern nur auf dem Hinterrad und bekommen sogar vereinzelt Applaus dafür.
Als der Luftalarm ertönt, passiert – gar nichts. Die Kakofonie verschiedener Sirenen, von nah und fern und aus allen Richtungen, mit geringem Abstand zueinander ausgelöst, ergibt eine faszinierende, gruselige Klangwolke, deren An- und Abschwellen gar eine gewisse Melodie. Assoziationen zu Kriegsfilmen mit Flächenbombardement und zu den Erzählungen der Großeltern steigen auf. Doch die Leute hier rührt der Alarm nicht weiter, sie sind abgebrüht. So gut wie niemand sucht die über die Stadt verteilten Schutzräume auf. Keine Mütter schnappen heulende Kinder von ihrem Spielzeug weg und tragen sie in Sicherheit. Kein Gespräch wird abgebrochen, keine Einkaufstasche fallengelassen. Alle machen einfach weiter. Die Front ist über 500 Kilometer weit entfernt, von hier aus gesehen weit hinter Kiew.
Bei Raketen gibt es in der Ukraine landesweiten Alarm
„Die Angst zieht eher ein, wenn es einmal mehrere Tage keinen Luftalarm gibt, denn dann ist etwas im Busch, dann bereiten sie etwas vor“, erklärt Hanna, die mit ihrer Mutter in einem Plattenbau am Rande der Innenstadt wohnt. Überhaupt gibt es mehrere Arten von Alarm. Diese werden über diverse Apps vermittelt, die die Ukrainer in ihren Smartphones haben. Bei Raketen gibt es landesweiten Alarm, ansonsten nur in der angegriffenen Region. Je nach Waffensystem und Zeitpunkt der Ortung hat man dann möglicherweise nur noch Sekunden, sich zu schützen, oft aber auch eine halbe Stunde. Ballistische Mittelstreckenraketen kommen mit mehreren tausend Stundenkilometern aus dem All, die Propeller-Drohnen fliegen kaum schneller, als ein Auto fährt. Wer es nicht in einen Schutzraum schafft, soll möglichst zwei Wände zwischen sich und die Außenwelt bringen. Daher gehen die meisten Ukrainer bei einem konkreten Angriff einfach in den Flur ihrer Wohnung, gerade nachts. Der Rest ist Glückssache. Die Sirenen verstummen bereits nach wenigen Minuten wieder, aber damit ist der Alarm nicht aufgehoben. Die Entwarnung erfolgt leiser per Sirene und per App, manchmal schon nach wenigen Minuten, manchmal erst nach Stunden. Es gibt kaum jemanden ohne Smartphone hier.
Ansonsten aber ist das rund 140 Kilometer westlich von Kiew gelegene Zhytomyr, auch Schytomyr oder Schitomir geschrieben, eine ganz normale Großstadt. Mit knapp 300.000 Einwohnern ist sie ungefähr so groß wie Augsburg, und Hauptstadt eines der 24 Oblaste der Ukraine. Nach Westen zur polnischen Grenze sind es etwa 500 Kilometer, im Norden erreicht man nach 130 Kilometern die belarussische Grenze, und nach Odessa im Süden sind es von hier aus ebenso 500 Kilometer. Die Front im Osten beginnt weitere 350 Kilometer hinter Kiew.
Allein, dass vor vielen Häusern Generatoren stehen, weist auf die Ausnahmesituation hin. Und dass viele Soldaten präsent sind, die gerade eine Verletzung ausheilen, Urlaub haben oder auf Abholung warten. Die Straßenbahnlinie wurde 1899 eröffnet, die Jahrzehnte alten Wagen rumpeln langsam über die uralten Gleise. An vielen Haltestellen und in Parks gibt es öffentliche USB-Buchsen und Halterungen für mehrere Handys. Im Alltag fühlt man sich hier nicht in einem Land im Krieg, sondern eher wie in Italien vor zwanzig Jahren. Es gibt Cafés an jeder Ecke, teilweise liebevoll und malerisch hergerichtet, es gibt Restaurants mit allem, was das Herz begehrt, von mediterraner Küche über fernöstliche Spezialitäten wie Sushi bis zu frischen Austern, und es gibt Geschäfte aller Art, und gefühlt an jeder Ecke eine „Apteka“, eine Apotheke. Im Supermarkt steht der rote Kaviar regalweise, der echte vom Stör ist unter Verschluss und fast so teuer wie bei uns.

Westliche Unternehmen haben die Ukraine längst durchtränkt, von Dr. Oetker, Riegele und Augustiner über die Raiffeisenbank bis zu den großen Automarken findet man so gut wie alles. Die Bars verkaufen süffiges Bier für rund 1,50 Euro die Halbe, nur das importierte Guinness im „Irlandski Pab“ geht für knapp vier Euro über die Theke, für viele ein Stundenlohn. Hier wird viel selbst gebraut, es gibt neben den etablierten ukrainischen Brauereien wie zum Beispiel im nahegelegenen Berdytschiw jede Menge kleine Anlagen in den Bars selbst. In der Kellerbar „Schulz 2.0“ in Zhytomyr zum Beispiel serviert Maksim neben den selbst gebrauten Lagerbieren hell und dunkel auch Hanfbier (grün), Erdbeerbier (rot) und Grapefruitbier (orange) und lässt, wenn man nett ist, auch vom Cidre des Vaters eines Kollegen probieren, der hier für die Mitarbeiter unter der Theke bereitsteht – alles selbst und legal hergestellt. Das „Schulz“ ist zugleich auch der lokale Schutzraum, andere sind nicht so angenehm ausgestattet.
Bezahlen kann man wirklich überall mit Karte, auch in der uralten Straßenbahn, im Oberleitungsbus aus Sowjetzeiten oder im Marschrutka-Sammeltaxi, selbst Centbeträge für den Toilettenbesuch sind selbstverständlich. So wird der Kontoauszug zum Reisetagebuch. Digital ist die Ukraine sehr weit: Es gibt mit „Diya“ eine Art Bürger-App, in der hat man stets alles im Smartphone dabei: Ausweis, Führerschein, Krankenversicherung, Ausbildungszeugnisse, Steuern, Umfragen und vieles mehr. Sogar heiraten können zwei, die sich einig sind, ohne Amt, Kirche und Termin. Über 130 verschiedene Amtsgänge können über diese App erledigt werden.
Wenn die Sirene heult, erkennt man den Luxus der Sicherheit
Die Solidarität der Ukrainer untereinander ist sehr groß. Was sie eint, ist natürlich der gemeinsame Feind, aber insbesondere auch die Erfahrung, plötzlich und unfreiwillig Kriegspartei zu sein. Hier in der Ukraine fehlt einem das grundlegende Gefühl der Geborgenheit, die grundsätzliche Sicherheit, nicht beschossen zu werden. Man erkennt diesen Luxus erst wirklich, wenn man hier ist und die erste Sirene heult – dies ist keine Übung.
Ab dem Grenzübertritt in die Ukraine schwelt im Hinterkopf die irrationale Frage, ob man sich womöglich gerade in jemandes Fadenkreuz befindet, theoretisch kann das ja nun sein. Diese initiale Sorge verringert sich in den nächsten Tagen auf ein erträgliches, verdrängbares Maß, aber dennoch befindet man sich in einem Land, wo scharf geschossen wird, und in dem täglich Menschen durch den Krieg aus dem Leben gerissen werden. Meistens weit weg, aber eben nicht immer. In Zhytomyr jedenfalls sei schon sehr lange nichts mehr passiert, versichert Hanna, also kein Grund, sich verrückt zu machen. Zu Beginn des Krieges wurde zum Beispiel ein paar Straßen weiter ihre ehemalige Schule bombardiert, die Ruine steht seither leer und wartet auf den Abriss. Zum Glück wurde da schon Fernunterricht gegeben, niemandem ist etwas passiert. Dass Menschen auch hier um ihre Sicherheit fürchten und fliehen, ist nachvollziehbar.
Besagte Solidarität ist überall zu spüren: Wenn weit draußen auf dem Land heute kein Bus mehr kommt, fährt man halt per Anhalter und gibt zum Dank ein paar Hryvnia. Wer kein Ukrainisch spricht, der kommuniziert mit Händen und Füßen, die Leute raten eifrig mit. Viele Ältere sprechen etwas Deutsch, Jüngere sprechen meist gutes Englisch. Und Russisch können so gut wie alle Ukrainer, verweigern nun aber diese ehemalige Alltagssprache. Manch einer muss richtig umlernen, so sehr hatte er sich an Russisch gewohnt, dass die eigenen Vokabeln in Vergessenheit geraten sind. Besucher aus dem Ausland sind gern gesehen und werden herzlich angenommen. Im Alltag kann jeder helfen: In Zentren im ganzen Land kann man seine Arbeitskraft spenden, zum Beispiel Tarnnetze herstellen oder reparieren. Der eine spendet eine halbe Stunde, ein anderer verbringt ganze Tage dort.
Wer will, kann in privaten Schulen einen Drohnenflugschein machen. Die verschiedenen Streit- und Ordnungskräfte werben auf Plakaten und in den Medien um Rekruten. Während hauptsächlich im Südosten und Osten der Krieg heftig tobt, scheint hier die Wirtschaft zu florieren. Im Krieg wurde die zerbombte Autobahn-Umgehung um die Stadt saniert, die größte Tankstelle der Ukraine eröffnet und ein neues McDonald’s-Restaurant gleich mit. Man sieht aber auch arme Menschen, die Straßen sind oft in einem schlechten Zustand, und eine große Zahl von herrenlosen Hunden treibt sich in der Stadt herum. Sie sind tierärztlich minimalversorgt und erhalten Futter, mehr aber nicht. Sie sind freundlich, man kann sie herbeirufen und füttern oder adoptieren, auch werden sie von diversen Organisationen in andere Länder vermittelt.

Die Missgunst gegenüber Putins Russland äußert sich in vielen kleinen Facetten: Auf Straßenmärkten kann man vielerorts Toilettenpapier mit Putins Antlitz kaufen. Im Hinterzimmer einer Kneipe in einer anderen Stadt können Besucher mit dem Luftgewehr auf ein Portrait von Putin schießen. Überall zeigt sich der Wunsch nach Revanche, zum Beispiel finden sich in vielen Kneipen oder auch Tankstellen Videoclips, etwa vom Roten Platz in Flammen, oder auch brennend abstürzende russische Flugzeuge – Feelgood-Maßnahmen auf einem für Außenstehende befremdlichen Niveau.
Die Parole „Slava Ukraini“ mit der Antwort „Heroim Slava“ – „Ruhm der Ukraine, den Helden Ruhm“ ist allgegenwärtig. Ebenso die Trauer um die Gefallenen. Auf den Friedhöfen erkennt man an der ukrainischen Flagge die Gräber von Gefallenen schon von fern, und auf dem Soldatenfriedhof weht ein Flaggenmeer. In der Stadt steht ein provisorisches Denkmal für die Toten dieser Stadt – Plakatwände mit Fotos über Fotos, Hunderte von ihnen. Hier liegen auch Blumen, Stofftiere, Briefe. Ein Zeugnis vieler Tränen in Sichtweite der Flaniermeile, vielleicht, damit die Toten auch nochmal ein bisschen teilhaben können am Leben. Hanna erzählt von Verwandten in Russland, zu denen zuletzt auch der telefonische Kontakt abbrach, nachdem diese einfach nicht glauben wollten, dass sie in der Ukraine wirklich keine Kinder essen. Die Macht der Propaganda in Russland ist stark, die Kluft tief.
Doch hier herrscht augenscheinlich Alltag wie überall sonst auf der Welt. Es wird renoviert, gebaut und im Garten gewerkelt, im Kleinen wie im Großen. Marode Plattenbauten werden ersetzt durch moderne Wohnblocks, die größere, hellere Wohnungen mit mehr Komfort bieten. Die Platten aus der Sowjetzeit wurden jedoch ihrerseits für die Ewigkeit gebaut und müssen, auch wenn sie oft nicht mehr schön aussehen in ihrem Ost-Brutalismus, meist nicht so bald ausgetauscht werden. Sie funktionieren einwandfrei, sind gut durchdacht und bieten sogar ein recht angenehmes Wohnklima.
In den Kinos laufen internationale, aber auch neue ukrainische Filme, es finden große wie kleine Konzerte statt, es wird Theater gespielt, und es gibt Fernsehshows wie überall. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich hier Showtanz-Revuen, für die Tanzgruppen aus selbst den kleinsten Orten durchs halbe Land reisen, um für wenige Minuten an einem anderen Ort aufzutreten, als ein Act von mehreren. Das Repertoire der Freizeitgruppen reicht hier vom Walzer über Pop-Musical-Interpretationen bis hin zum Volkstanz Hopak, der den Tänzerinnen und Tänzern athletische Höchstleistungen abverlangt. Solche Shows schmieden Gemeinschaften zusammen. Man möchte nicht meinen, dass Krieg herrscht.
Traumaexperten sagen: Normalität ist eine Überlebensstrategie
Alltag erleben, sich etwas Gutes tun: Für Traumaexperten ist das eine bekannte Reaktion auf Kriegsereignisse. „Die Menschen versuchen, für sich so viel Normalität herzustellen, wie nur irgend geht“, heißt es dazu etwa vom Traumhilfe-Netzwerk Augsburg und Schwaben. „Normalität gibt Stabilität. Das heißt, das Verhalten, das die Menschen in diesen Regionen an den Tag legen, ist eine Überlebensstrategie, die sie stabilisiert. Es hilft ihnen zum Beispiel, für ihre Kinder da zu sein.“
Sollte man, wenn man hier Besucher ist, die Menschen darauf hinweisen, dass sie ein Trauma durchleben? Hierzu rät das Traumahilfe-Netzwerk: „Die Menschen reagieren auf solche Situationen unterschiedlich. Das hängt von vielen Bedingungen ab, wie Alter oder eigenen Bindungserfahrungen. Jeder Mensch geht auf seine Art und Weise mit dieser Lebenssituation um. Sie realisieren es dann, wenn es für sie möglich ist. Es ist ihr eigener Prozess, den sie sich so gestalten, wie es ihnen möglich ist.“
Hannas beste Freundin Sasha ist gerade 22 geworden, sie lädt zu einer Feier aufs Dorf in das Haus ihrer Mutter. Die ist nicht da, sie hatte nach Flucht und Rückkehr ihren Job als Logopädin nicht wiederbekommen und sich daraufhin zur Armee gemeldet. Nun hat sie Dienst in Frontnähe, in relativer Sicherheit. Das morbide Thema der Feier: Goth, also alles rund um die Faszination des Todes. Vier junge Frauen in engen schwarzen Kleidern feiern ausgelassen, auf der pechschwarzen Torte steht „One year closer to death“ – dem Tode ein Jahr näher. Es wird gegessen, getrunken, gelacht, mit Hund Tosya, Kater Shunya und Hase Masha gespielt und auf dem völlig verstimmten alten Klavier gespielt. Kurz vor Mitternacht hektischer Aufbruch, denn beinahe wäre die Ausgangssperre vergessen worden. Per App wird ein Taxi bestellt – hier sind Taxen Privatautos, deren Fahrer ihren Dienst über eine App zur Verfügung stellen, sobald sie Zeit und Lust haben – zum Glück ist noch jemand bereit, aufs Dorf herauszukommen. Ganz so streng ist es zum Glück nicht mit der Ausgangssperre zwischen Null und sechs Uhr: Wer draußen aufgegriffen wird, wird meist einfach nur von der Polizei gerügt und direkt nach Hause gebracht.

Noch bevor Hanna die Haustür ihres Wohnblocks erreicht, zuckt kurz ein Leuchten über den Himmel, gerade so, als fände ein paar Straßen weiter ein Volksfest statt. Doch keine vier Sekunden später erschüttert ein lauter, satter Knall die Nacht, und noch einer, und dann noch einer. Jetzt ist es ernst. Hier gibt es einen Angriff. Den Luftalarm hatten die Mädels auf der Party natürlich ignoriert. Was solle man auch machen, argumentieren viele. Wenn man im Keller sitzt und der Wohnblock stürzt ein, kommt man auch nicht raus. Wenn ein Schutzraum direkt getroffen wird, ist es sowieso vorbei. Aber wenn man noch nicht dran ist mit Sterben, dann braucht man auch nicht in den Schutzraum gehen. Und wenn man dran ist, dann ist es eben so. So halten es viele hier, hunderte von Kilometern von der Front entfernt.
Und plötzlich ist der Krieg doch ganz nah. Es gibt insgesamt drei Nächte mit Angriffen in dieser Woche. Mit hauptsächlich ballistischen Raketen vom Typ Iskander-M und Ch-101-Marschflugkörpern nehmen die Russen einen Militärflughafen ins Visier, und eine militärische Reparaturanlage, die noch aus Sowjetzeiten stammt, keine vier Kilometer Luftlinie von Hannas Wohnung entfernt. Die Bewohner des Stadtviertels werden nachts von Knall und Druckwelle wachgerüttelt. Solange die Explosionen nicht näherkommen, haben sie nochmal Glück gehabt. Entfernt hört man kleine Explosionen, angeblich Schüsse der Luftabwehr. Hanna macht Tee, und nach der Entwarnung geht es wieder ins Bett.
Bei einer Modenschau lokaler Designer am folgenden Mittag spricht der Moderator die Bombardierung kurz an, doch niemand hat sich krankgemeldet, und, wichtiger noch: Niemand fehlt. Die Kleider an den jungen Frauen, allesamt keine professionellen Models, sind ambitioniert und mit lokalem Bezug. Viele der Entwürfe kann man sich gut auf roten Teppichen vorstellen, sogar die traditionellen Wyschywanka-Stickereien konnte eine der Designerinnen in die Gegenwart transponieren.

Später besucht Hanna eine der Freundinnen von der Party, die in der dem Reparaturwerk angeschlossenen Siedlung lebt. Sie hat den Angriff aus weniger als einem halben Kilometer Entfernung erlebt. Jetzt führen sie offiziell deren Hund Gassi, wollen aber natürlich die Zerstörung in Augenschein nehmen. Doch die Militärpolizei hat das Gelände abgesperrt, hier gibt es nichts zu sehen. In der Nähe ist jedoch eine der Raketen oder Drohnen im Wohngebiet eingeschlagen. Wo einst kleine gemauerte Lauben standen, die als Freizeithäuschen genutzt wurden, findet sich ein rund 30 Meter durchmessender Bereich, bei dem im sprichwörtlichen Sinne kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist. Geschwärztes Metall, einst Dächer, Wäscheleinen, Fahrräder und ähnliches, liegt zwischen unheimlich hell gebliebenen Kalksandsteinziegeln und den zerfetzten Resten von Möbeln, Textilien und Einrichtungsgegenständen.
Die Zerstörung ist groß, aber es gibt keine Toten
Die Häuschen hier wurden komplett in ihre Bestandteile zerlegt. Durch einen nun im Freien liegenden Kellerabgang sieht man ein auf wundersame Weise einzelnes heil gebliebenes Glas Essiggurken. Von vier oder fünf großen Bäumen ragen nur noch die unteren paar Meter rabenschwarz verkohlter Stamm in den Himmel. Krone und Äste wurden abgerissen. Auf der dem Einschlag abgewandten Seite sieht die Rinde komplett gesund aus, scharf abgegrenzt, wie in einem Zeichentrickfilm aus der Kindheit. Die weiter weg stehenden Bäume sind ebenso schwarz, tragen verkohltes Laub. Es ist unwirklich. Fotografieren ist hier streng verboten. Die restlichen Lauben sind je nach Abstand immer weniger stark beschädigt. Ihnen fehlen einzelne Wände oder das Dach, einzelne Wände sind fortgerissen oder etwas versetzt. Als hätte man das Häuschen zu stark aufgeblasen, und es ist dann geplatzt. Obwohl hier schon die Wege frei gemacht wurden, tritt man auf Schutt, Holzsplitter, Glas und Metall. Der Hund wird wegen der Glassplitter schon lange getragen.
Keine 50 Meter entfernt stehen Wohnblocks, die ebenso leicht getroffen hätten werden können. Hier sind von der Druckwelle teils meterlange Fensterfronten aus dem Gebäude gerissen worden, manche von ihnen hängen noch an einer Schmalseite fest, wie ein Stück Schale an einer Kartoffel. Intakte Glasscheiben gibt es nicht mehr, die Vorhänge hängen aus den toten Fenstern ins Freie, aber die Leute wohnen weiterhin hier. Verletzte gab es, aber keine Toten. Dieses Mal.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden