Herr Faas, bis zur Bundestagswahl sind es noch zwei Wochen. Bei der Bundestagswahl 2021 war es das Lachen von Armin Laschet in einem ungünstigen Moment. Nun hat vor wenigen Wochen ein Messer-Attentat auf Kinder das Land erschüttert. Ohne die beiden Fälle gleichsetzen zu wollen: Wie sehr wird der Ausgang von Wahlen von einzelnen Ereignissen geprägt?
THORSTEN FAAS: Wir sehen in vielen Wahlkämpfen ein immenses Maß an Dynamik. Das haben wir nicht nur im Bundestagswahlkampf im Jahr 2021 erlebt, wir haben es auch in vielen Landtagswahlkämpfen erlebt. Und diese Dynamik hat ihre Ursache weniger darin, dass Menschen noch einmal sehr grundsätzlich über sich und die Welt nachdenken, sondern darin, dass sich der Fokuspunkt verschiebt. Und das ist häufig eine Reaktion auf Ereignisse. Es ist eben für eine Wahlentscheidung nicht egal, ob der Fokus gerade auf dem Klima, der Migrationspolitik oder der Wirtschaft liegt. Mit all diesen Themen werden jeweils andere Parteien verbunden, andere Kompetenzen und damit andere Wahlentscheidungen. Allein durch das Verschieben des Fokuspunkts ergeben sich also durchaus gravierende Veränderungen.
Ist unsere Wahlentscheidung eine Bauchentscheidung?
FAAS: Sie ist sicher eine Mischung aus Emotion und Ratio, also aus Bauch und Hirn. Aus psychologischen Forschungen wissen wir, dass Emotionen für unsere Entscheidungsfindung sehr wichtig sind. Aber egal, ob es der Bauch oder der Kopf ist: Unsere Entscheidungen sind ja nie perfekt sortiert und eindeutig, da geht es auch mal drunter und drüber. Beim Themenfeld A hält man vielleicht die eine Partei für kompetenter, beim Themenfeld B die andere. Allein, indem sich die Schwerpunkte verschieben, verschiebt sich auch die Entscheidung. Hinzu kommt, dass nicht jeder ganz genau in den Details drinsteckt und diese Wählerinnen und Wähler dann leichter empfänglich sind für bestimmte Argumente. Das ist ja eine bemerkenswerte Eigenschaft von Demokratie: Die weniger Informierten entscheiden am Ende die Wahl womöglich, weil sie stärker beeinflussbar sind.
Eigentlich doch tragisch: Die Parteien haben hunderte Seiten Parteiprogramme vorgelegt, darin steht klar beschrieben, wer was will. Ist das im Grunde alles für die Altpapiertonne?
FAAS: Es stimmt, dass kaum ein Wähler, kaum eine Wählerin in die Parteiprogramme schaut. Das heißt aber nicht, dass diese Programme irrelevant sind – sie sind nur kein Instrument der Wahlkampf-Kommunikation. Wahlprogramme wirken in die Parteien hinein, in die verschiedenen Lager, sie sind eine Art der Selbstvergewisserung und sie sind Grundlage für Koalitionsverhandlungen.
Wie sieht es mit den Wahlplakaten aus? Man nimmt sie oft nur im Vorbeifahren wahr.
FAAS: Ein Plakat muss innerhalb weniger Sekunden funktionieren, Auffallen ist ein wichtiger Wert in unserer Zeit. Deshalb werden häufig Schlagworte genutzt, die unsere Emotionen ansprechen. Dafür gibt es auch international Vorbilder: Barack Obama arbeitete mit dem Begriff „hope“, also Hoffnung, Donald Trump mit „Make America great again“. Es gibt Kampagnen, denen es gelingt, mit einer ganz knappen „Aufkleber-Botschaft“ die Botschaft und die Person zusammenzuhalten.
Bedeutung von Personen im Wahlkampf hat zugenommen
Wie wichtig ist es bei der eigenen Wahlentscheidung, was andere wählen, also die Familie oder Freunde?
FAAS: In der Familie und im Freundeskreis finden wir sehr häufig homogene Strukturen, die Menschen sind sich ähnlich. Dadurch wird die politische Haltung eher sogar wechselseitig verstärkt als verändert. Anders ist es, wenn wir uns mit Nachbarn oder Kolleginnen und Kollegen austauschen. Da werde ich vielleicht auch mal herausgefordert – oder lerne etwas Neues. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Thema „Homeoffice“ und die Frage, ob uns damit nicht ein Ort des Austausches wegbricht. Für die Demokratie ist es durchaus wichtig, auch mit anderen Meinungen und Haltungen konfrontiert zu werden. Ganz grundsätzlich aber gilt: Identitäten sind von großer Bedeutung, weil diese letztlich definieren, wie ich auf die Welt, auf andere Personen, aber eben auch Parteien und Programme schaue. Die eigene soziale Identität wird gerade bei jungen Menschen weniger über bestimmte Parteien, denen man sich verbunden fühlt, definiert, sondern eher über andere Faktoren, mit denen man sich verbunden fühlt.
Welche Faktoren spielen die größte Rolle bei der Wahlentscheidung?
FAAS: Es gibt nach wie vor viele Menschen, die sich auch langfristig einer Partei verbunden fühlen. Das sind aber vor allem ältere Wählerinnen und Wähler. Bei jungen Menschen sehen wir eine viel größere Offenheit. Am Ende ist es meist eine Mischung aus Person und Programm. Allerdings hat die Bedeutung von Politikerinnen und Politikern als Person in den letzten Jahren möglicherweise zugenommen: Wir haben ja immer wieder lernen müssen, dass die Themen, die eine Legislaturperiode dominieren, in den vorhergehenden Wahlkämpfen keine Rolle gespielt haben. Die Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, all das war kaum vorhersehbar. Der Schluss, den die Menschen daraus ziehen, ist, dass das politische Personal ganz entscheidend ist. Wem vertraue ich so sehr, dass er oder sie, was auch immer kommen mag, die richtige Entscheidung trifft? Das macht diese Bundestagswahl auch zu einer besonderen. Denn alle Spitzenkandidaten haben sehr schlechte persönliche Zustimmungswerte. Das ist dann wiederum ein Einfallstor für populistische Parteien und Narrative: Die da oben machen eh, was sie wollen.
Auch die AfD hat ja keine charismatische Figur an der Spitze. Was würde geschehen, wenn ihr das gelänge?
FAAS: Im Kommunalen stellt die AfD ja bereits Bürgermeister und Landräte, in Thüringen ist sie stärkste Kraft. Es ist also kein völlig absurder Gedanke, dass es der Partei auch auf Bundesebene irgendwann gelingen könnte, die stärkste Kraft zu werden. Denn was sie schafft, ist, bei ihrer Zielgruppe unter anderem in den Sozialen Medien sehr sichtbar zu sein. Die AfD ist keine Partei, die sich als Volkspartei für alle versteht. Sie spricht Menschen – auch junge Menschen – sehr gezielt an, versteht es offenbar besser, Netzwerke zu knüpfen. Aber der Aufstieg einer neuen Partei oder einer Bewegung ist immer auch ein Zeichen für die Schwäche der anderen Parteien. Schauen Sie nach Frankreich: Emmanuel Macron war mit seiner Bewegung nur deshalb so erfolgreich, weil die etablierten Parteien nicht überzeugen konnten. Lassen Sie es mich deshalb so sagen: Ein Populist aus der Mitte hätte in diesen Zeiten sehr großes Potenzial in unserem Land.
AfD schürt Verachtung gegenüber „den“ Parteien
Gerade die AfD arbeitet nicht nur im Wahlkampf häufig mit den Ängsten der Menschen. Lässt sich mit negativen Emotionen leichter mobilisieren?
FAAS: Kritik ist für eine Demokratie unerlässlich. Wir brauchen gar kein politisches System, mit dem alle permanent zufrieden sind. Phasen, in denen sich die Parteien einig sind, müssen auch gar nicht unbedingt produktiver sein, die Große Koalition war dafür ja das beste Beispiel. Was der AfD eher gelingt, ist, mit einer bestimmten Art negativer Emotion zu politisieren: Verachtung, fast schon Ekel gegenüber „den“ Parteien, „den“ Medien, „den“ etablierten Kräften. Es geht gar nicht mehr nur um Angst oder Ärger oder Verunsicherung. Es ist eine ganz neue Art der Emotion, die bedient und gleichzeitig geschürt wird. Verachtung ist etwas, das nicht mehr zu einer Demokratie passt. Aber diese Art der extremen Emotion lässt sich eben besser in bestimmten digitalen Kanälen multiplizieren, der Algorithmus scheint sie zu bevorzugen.
Verpuffen positive Botschaften?
FAAS: Nein, das würde ich nicht sagen. Die „Respekt“-Kampagne der SPD im Jahr 2021 war durchaus erfolgreich. Und auch wenn wir uns die Umfragen und die Wahlergebnisse anschauen, sehen wir, dass die AfD weit entfernt ist, mit ihren Botschaften eine absolute Mehrheit der Bevölkerung anzusprechen.
Können Fakten, Faktenchecks helfen, um gegen Gefühle und Stimmungen anzugehen? Wir haben in den USA gesehen, dass selbst die absurdesten Lügen Donald Trump nicht schaden konnten in seinem Wahlkampf.
FAAS: Es ist Teil der Strategie solcher Kräfte, das Konzept von Fakten infrage zu stellen. Worüber sollen wir denn noch reden, wenn es „alternative Fakten“ gibt? Aber was wäre die Alternative, wenn wir nicht immer wieder versuchen würden, zu argumentieren und eigene Positionen zu begründen – und sich vielleicht auch von besseren Argumenten überzeugen zu lassen? Es ist wichtig, die Menschen mitzunehmen. Denn wahr ist auch, dass viele Themen wie der Klimawandel oder etwa das Gebäudeenergiegesetz extrem kompliziert sind. Wir können nicht voraussetzen, dass jeder und jede sofort alles versteht. Zu sagen, etwas sei alternativlos, reicht nun einmal nicht aus.
Zur Person
Professor Thorsten Faas ist Wahlforscher und Politikwissenschaftler an der Freien Universität in Berlin.
Keine Bauchentscheidung sondern meine persönliche Meinung: Letztens habe ich mal wieder "Spuren statt Staub" von Förster/Kreuz in die Hand genommen. Hier ein kurzer Auszug aus oben genanntem Buch, den ich passend zu Merz und Scholz finde: "Eine starke Marke zu sein, bedeutet immer auch, den Mut zu haben, ein klares eigenes Profil zu entwickeln. Das führt dazu, dass wir ein Risiko eingehen. Das Risiko, dass es Menschen gibt, die uns nicht leiden können. Aber nur, wenn wir gewillt sind, dieses Risiko einzugehen und eine klare Position zu beziehen, gibt es die Chance, dass wir überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Wer vor diesem Risiko zurückschreckt, kann sich immer noch den Wahlspruch "Rundgelutschte Gummibärchen haben kein Profil" über seinen Schreibtisch hängen." Aufgrund der aktuellen Bundestags-Streitereien zwischen den Beiden dürfte ziemlich klar sein, auf wen ich was beziehe.
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