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Israels Offensive im Gazastreifen: Was die Besatzung für den Nahen Osten bedeutet

Naher Osten

Wie weit wird Israel im Gazastreifen gehen?

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    Palästinenser fliehen aus Shijaiyah im Gazastreifen, nachdem das israelische Militär die Evakuierung des Gebiets angeordnet hat.
    Palästinenser fliehen aus Shijaiyah im Gazastreifen, nachdem das israelische Militär die Evakuierung des Gebiets angeordnet hat. Foto: Jehad Alshrafi, dpa

    Die Trümmer der zerbombten Häuser ragen in den Himmel, die Menschen machen sich erneut auf den Weg. Mehr als 100.000 Frauen, Männer und Kinder sind nach Angaben der Vereinten Nationen in den vergangenen Tagen aus dem Süden des Gazastreifens geflüchtet. Gerade einmal sechs Wochen dauerte die Verschnaufpause, die die israelische Armee und die Hamas den Zivilisten im Gazastreifen gewährt hatten. Längst laufen die Kämpfe wieder, der Krieg geht in die nächste Runde. Und die könnte die ohnehin schwierige Lage im Nahen Osten noch komplizierter machen.

    Was soll mit Gaza geschehen? Die Frage steht seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag, als die Hamas ihre Terroristen nach Israel schickte, über allem. Nun bekommt sie eine neue Brisanz. Denn Israels Premierminister Benjamin Netanjahu weitet die Militärpräsenz im Gazastreifen gerade deutlich aus. Verteidigungsminister Israel Katz spricht von der Eroberung umfangreicher Gebiete, die israelische „Sicherheitszonen“ werden sollten.

    „Wir erleben im Gazastreifen keine Befriedung, sondern im Gegenteil eine Fortsetzung der Eskalation“, sagt Stephan Stetter, Nahost-Experte an der Universität der Bundeswehr in München. „Die Hamas ist zwar militärisch besiegt, versucht aber Lebenszeichen zu setzen, während Israel seine militärische Fokussierung auf Gaza wieder aufgenommen hat. Dieser Krieg geht also weiter.“

    Die Zeitung Jerusalem Post meldet unter Berufung auf Kreise des Verteidigungsapparats, Israels Armee kontrolliere inzwischen fast 30 Prozent des Gazastreifens. „Aus Verteidigungskreisen verlautete, wenn die Hamas nicht bald einem neuen Geiselabkommen zustimme, könne innerhalb weniger Tage oder Wochen eine viel größere Invasion angeordnet werden“, schreibt das Blatt. Will Netanjahu den Gazastreifen also doch komplett unter israelische Verwaltung stellen?

    Israel hielt den Gazastreifen schon einmal besetzt

    Israel hatte das schmale Gebiet im Sechs-Tage-Krieg von 1967 von Ägypten schon einmal erobert und militärisch besetzt. Erst im Jahr 2005 mussten sich die israelischen Siedler von dort zurückziehen, das Gebiet wurde an die Palästinenser übergeben. Der damalige Premierminister Ariel Scharon setzte den Schritt durch. Vor allem die rechten Kräfte im Land träumen indes bis heute von einer Rückkehr. Und hoffen, zum Profiteur der aktuellen Gemengelage zu werden. Geschürt werden die Ambitionen vor allem von den rechtsgerichteten Koalitionspartnern des Regierungschefs Netanjahu.

    Doch es sind viele Faktoren, die Einfluss haben auf die derzeitige und auf die weitere Entwicklung in dem zerbombten Küstenstreifen. Eine innenpolitische Rolle dürfte der rechtsextreme Minister Itamar Ben-Gvir spielen, der zurückkehrt in die Regierung von Netanjahu – er war vor wenigen Wochen aus Protest gegen die Waffenruhe mit der Hamas zurückgetreten. Neuwahlen will Netanjahu aktuell um jeden Preis verhindern, ein Zerwürfnis mit dem Koalitionspartner kann er sich nicht leisten.

    Ben-Gvir gilt als Befürworter eines Gazastreifens unter israelischer Kontrolle und Besiedelung sowie einer Vertreibung der Palästinenser. „Aber auch die Arabische Liga ist bislang nicht in der Lage, eine echte Antwort zu finden, wie es mit dem Gazastreifen weitergehen könnte, vor allem, was die Frage nach einer Entwaffnung der Hamas angeht“, sagt Stetter. Die Länder hatten zwar kürzlich einen Wiederaufbauplan für den Gazastreifen beschlossen - viele Fragen etwa zur Finanzierung und zur zukünftigen Kontrolle der Region sind allerdings ungeklärt.

    Netanjahu spielt „Kriegs-Mikado“

    Und dann ist da noch ein Akteur, der für Israel eine besondere Rolle spielt: die Schutzmacht USA. Hatte die Regierung Biden noch Druck auf Netanjahu ausgeübt und ihn zur Mäßigung gemahnt, ist aktuell aus Washington kaum Gegenwind zu erwarten für das Vorgehen Israels – im Gegenteil. US-Präsident Donald Trump selbst hatte jüngst mit der Idee einer Gaza-„Riviera“ kokettiert, also einer Art Luxus-Region, in der die 2,3 Millionen Palästinenser nicht vorkommen. Rote Linien zieht Trump hingegen nicht. Die israelische Regierung nutzt dieses für sie günstige Zeitfenster für sich. Bei seinem Besuch in Ungarn in dieser Woche kündigte Netanjahu an, dass seine Armee in einem Korridor vorrücke, der die Städte Rafah und Chan Junis im Süden des Küstengebiets trennt. „Wir erobern die Morag-Route“, sagte er. Der Name ist mit Bedacht gewählt: Morag war eine von jenen israelischen Siedlungen im Süden des Palästinensergebiets, die Israel im Jahr 2005 geräumt hatte. „Das sind kleine Botschaften an das heimische Publikum, das sich israelische Besiedelung und eine Vertreibung der Palästinenser vorstellt“, sagt Stetter. Und die passen durchaus ins Bild.

    „Es wird gerade so eine Art Kriegs-Mikado gespielt“, sagt der Experte. Netanjahu zieht Stäbchen um Stäbchen und schaut, wie weit er gehen kann, ohne dass sein politisches Haus wackelt. Der Wunsch, den Gazastreifen zu besetzen und die Palästinenser zu vertreiben, sei durchaus vorhanden – doch es gebe eben auch Umstände, die den israelischen Regierungschef ausbremsen. Die verkörpern vor allem die Angehörigen der noch immer von der Hamas gefangen gehaltenen Geiseln. Die berechtigte Furcht, dass eine weitere Eskalation der Kämpfe dazu führen könnte, dass das Leben der Gekidnappten in Gefahr ist, prägt weite Teile der israelischen Bevölkerung – weit mehr als die humanitäre Lage der Palästinenser. „Das Einzige, was unseren weiteren Vormarsch aufhalten kann, ist die Freilassung unserer Geiseln“, sagte deshalb auch Israels Generalstabschef Ejal Zamir bei einem Truppenbesuch in Rafah im Süden des Gazastreifens. Nach israelischen Informationen haben palästinensische Terroristen im Gazastreifen noch 24 lebende Geiseln in ihrer Gewalt, hinzu kommen die sterblichen Überreste Dutzender anderer Geiseln.

    Proteste der Palästinenser gegen die Hamas

    Aber auch die Stimmung in Saudi-Arabien ist entscheidend für die israelische Regierung. Seit Jahren arbeiten die beiden Staaten an einer politischen Annäherung, auch die USA sind in diesen Prozess involviert, den Netanjahu auf keinen Fall gefährden will. „Er muss also mehr Mikado spielen, als jetzt ganz offensiv zu sagen, dass er israelische Siedlungen im Gazastreifen bauen will“, sagt Stetter.

    Palästinenser protestieren gegen die Hamas und den Krieg mit Israel.
    Palästinenser protestieren gegen die Hamas und den Krieg mit Israel. Foto: Jehad Alshrafi, dpa

    Doch nicht nur die israelische Armee, auch die Menschen im Gazastreifen setzen der Hamas zu. Zum ersten Mal seit langer Zeit formiert sich in der Zivilbevölkerung offener Widerstand gegen die Islamisten. In Beit Lahia im Norden des Palästinensergebiets gingen in diesen Tagen Hunderte gegen die Herrschaft der Hamas und den Gaza-Krieg auf die Straße – obwohl die Hamas mit großer Brutalität gegen sie vorgeht. Die Demonstranten, darunter Kinder und Frauen, hätten die Islamistenorganisation bei dem Protest zwischen Häuserruinen zum Rückzug aufgefordert. Auf Videos, die in sozialen Medien kursieren und die Demonstration zeigen sollen, skandieren Palästinenser „Hamas raus“. „Diese Demonstrationen müssen wir sehr ernst nehmen“, sagt Nahost-Experte Stetter. „Die Menschen, die auf die Straße gehen, gehen ein enormes Risiko ein.“ Doch allein damit lasse sich die Hamas wohl kaum stürzen, solange es keinen Plan für eine Zeit nach der Hamas-Herrschaft gebe, die den Menschen eine Perspektive für Selbstbestimmung gibt. Und der sei aktuell nicht erkennbar – weder von Israel, den USA noch den arabischen Staaten.

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    3 Kommentare
    Maria Reichenauer

    Netanjahu fühlt sich doppelt stark, seit er Trump im Rücken hat. Und mit dieser neuen Stärke will er nur eins: möglichst viele Palästinenser sollen umkommen, möglichst wenige übrigbleiben. Dann kann man den Gazastreifen selbst bebauen und besiedeln und Trump kommt seinen Plänen für Gaza deutlich näher. Die wenige Palästinenser, die übrig bleiben, wird man schon auch noch irgendwie loswerden. So etwas nennt man Genozid. Das ist kein Weg zu Frieden, sondern provoziert neue Terrorzellen. Es ist grauenvoll, dass Europa diesem Treiben Netanjahus zusieht und weiterhin Waffen liefert. Hier sollte man schnellstmöglich einen Riegel vorschieben.

    Wolfgang Boeldt

    Vermutlich wirds nicht abgedruckt werden wie andere israel-kritische Anmerkungen von mir, aber: Israel ist ein Terrorstaat - da beißt die Maus keinen Faden ab.

    Wolfgang Schwank

    Das Netanjahu-Regime betreibt Staatsterror und wird das leider wohl so lange treiben, wie es aus den USA weiter gestützt wird und die werteorientierten Europäer aus Furcht in die antisemitische Ecke gedrängt zu werden oder auch aus Kalkül, tatenlos zuschauen. Das Abschlachten in Gaza entwickelt sich zum Genozid und alle Werteprediger mit Einfluss schauen zu.

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