Bis zu 30.000 sollen es gewesen sein, die am Dienstagabend vom Ballhausplatz in der Wiener Innenstadt und vom dortigen Bundeskanzleramt in einem langen Demonstrationszug in die nicht weit entfernte Lichtenfelsgasse vor die Parteizentrale der ÖVP gezogen waren. Während bei frostigen Temperaturen die Demonstranten ihre Wut und Sorgen rund um die anstehende Regierungsbildung der Konservativen mit der extrem rechten FPÖ hinausschrieen, tagten drinnen die Parteispitzen. Kurz zuvor waren sie, so zumindest dem Vernehmen nach, durchaus frustriert von den Verhandlungen mit der Partei von Herbert Kickl aufgebrochen.
Ganz offensichtlich hakt es im Koalitionsbildungsprozess. Kickl verlange nicht nur unter anderem die Entscheidungshoheit in EU-politischen Fragen, ein Ende der ORF-Haushaltsabgabe und künftig die Medienthemen bei sich im Bundeskanzleramt zu bündeln, sondern auch das Finanzministerium und das für die ÖVP so wichtige Innenressort – und damit auch die Kontrolle über die Bereiche Sicherheit, Asyl- und Migration.
Koalitionsbildung in Österreich: Fordert Herbert Kickl zu viel für sich uns seine FPÖ?
Das sei „zu viel für die ÖVP“, ließen ÖVP-Verhandler am Dienstagabend Medienvertreter wissen. Boulevardzeitungen sprachen daraufhin davon, dass die Verhandlungen de facto auf Eis gelegt worden seien – was sowohl ÖVP als auch FPÖ umgehend dementierten. Doch nur Theaterdonner also? Gezielte Signale, gerichtet in die eigenen Reihen, dass man sich auf den letzten Metern der Verhandlungen vom jeweils anderen nicht über den Tisch ziehen lassen werde?
Tatsächlich dürfte sich FPÖ-Chef Kickl auch in den Fragen der Ressortverteilung auf Maximalforderungen versteift haben. Wie berichtet, hatte der Chef der extremen Rechten Anfang Januar und nach der 180-Grad-Wende der ÖVP in seiner bislang einzigen Pressekonferenz der ÖVP deutlich ausgerichtet, wer nun in den Verhandlungen das Sagen hat. Dass Kickl sowohl das Finanz- als auch das Innenministerium für die FPÖ beansprucht, soll dem Vernehmen nach die ÖVP-Spitze dennoch überrascht haben.

In den vergangene Tagen kursierten in Wien verschiedene Überlegungen, wie die Frage des Zugriffs auf die Exekutive, die Themen Migration und Asyl sowie auf den für die ÖVP besonders heiklen Bereich des Staats- und Verfassungsschutzes geregelt werden könnten – zumindest aus Sicht der Konservativen. Die Direktion Staatsschutz- und Nachrichtendienst (DSN) könnte aus dem Innenressort herausgelöst werden, so die ÖVP-Überlegungen, um einen Zugriff des FPÖ-Chefs auf den Bereich zu verhindern. Ebenso könnte mit dem Bereich Asyl- und Migration verfahren werden – wie genau eine solche Aufteilung auf Ministeriumsebene aussehen würde, bleibt aber fraglich. Dass Kickl in diesen für die FPÖ ebenso zentralen Fragen allzu sehr nachgeben wird, gilt für Beobachter als unwahrscheinlich.
Verhandlungen in Österreich: Weder ÖVP noch FPÖ wollen aktuell aufgeben
Trotz aller Verwerfungen und Irritationen scheinen die Verhandlungen auf der Zielgeraden zu sein. Dafür spricht, dass nun nicht mehr die Verhandlungsteams, sondern bereits die Parteichefs, Christian Stocker von der ÖVP und FPÖ-Chef Kickl, über die offenen Streitpunkte und vor allem über die Ressortverteilung verhandeln. Zudem will keine der beiden Parteien die erste sein, die den Verhandlungstisch verlässt, und damit den Weg in – erneute – Neuwahlen frei macht, zumal die äußerst schwierige wirtschaftliche Situation und die zahlreichen Probleme in den Augen der Österreicher einer dringenden Lösung und damit einer handlungsfähigen Regierung bedürfen. Am Donnerstagvormittag soll Kickl auf Bundespräsident Alexander Van der Bellen treffen, um dem Staatsoberhaupt vom Fortschritt der Verhandlungen zu berichten.
Was bedeutet eine Kanzlerschaft von Herbert Kickl für Österreich – und für Deutschland? Darüber sprechen wir bei „Schon gehört? Alles, was uns bewegt“ mit Korrespondent Werner Reisinger. Hier können Sie die Folge anhören.
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