Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Rezension: Wenn Erinnerungsstücke helfen, von der Kriegszeit zu erzählen

Ein „Reliquie“ für die Schauspielerin Hanna Schygulla: Das kleine Töpfchen der Marke Fissler.
Foto: Dmitrij Leltschuk, Verlag
Rezension

Wenn Erinnerungsstücke helfen, von der Kriegszeit zu erzählen

    • |

    Liebevoll arrangiert die Porträts der Protagonisten – raffiniert in Szene gesetzt die Erinnerungsstücke an Krieg und Vertreibung. Dazwischen kleine schwarz-weiße Aufnahmen aus der familiären Fotokiste. Blättert man durch den Band „Warum hängt daran dein Herz?“ von Anette und Hauke Goos stellt sich beim Betrachter ein Gefühl gediegener Melancholie ein. Doch dieser erste Eindruck täuscht, denn die dazugehörigen Texte und Interview-Sequenzen erzählen längst nicht nur von wehmütigen Gedanken an Eltern oder Großeltern.

    Es geht auch um die seelischen Verwüstungen durch den Krieg. Es geht um Väter, die verändert aus dem Zweiten Weltkrieg, aus russischer Gefangenschaft zurückkehrten. Oft nahezu verstummt, nicht mehr fähig zu Zärtlichkeiten. Kaum mehr in der Lage, Gefühle zu zeigen – und wenn doch, dann artikuliert in Wutausbrüchen.

    Viele Kriegskinder erkannten in dem Kriegsheimkehrer den einst liebevollen Vater nicht mehr wieder

    So erlebt es auch der Schriftsteller Paul Maar, der zehn Jahre alt war, als der Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkommt, den er auf Fotos als sichtbar zugewandten und liebevollen Vater wahrgenommen hatte – an den er vage, aber positive Erinnerungen hegt. Doch davon ist nun nichts mehr spürbar: „Ich sah’s an seinem Gesichtsausdruck: Da gab es sehr schnell, schon bei Kleinigkeiten, eine Ohrfeige. Oder Prügel.“ Dazu hatte der Vater sich extra ein Stück Gartenschlauch zurechtgeschnitten. Eines weiß Paul Maar damals ganz sicher: „Wenn ich einmal Kinder haben würde, dann wollte ich auf keinen Fall so werden wie mein Vater.“ 

    Das Kapitel über Maar, bekannt für seine Kinderbücher – auch Klassiker der Augsburger Puppenkiste stehen im Werkverzeichnis – ist eine Ausnahme. Es kommt ohne Erinnerungsstück aus. Das anrührende Generationen-Gespräch zwischen dem Schriftsteller, seinem Sohn Michael und Enkel Bruno handelt davon, ob und wie Verletzungen und Enttäuschungen verarbeitet und an die eigenen Kinder weitergegeben wurden. Es sind oft auch die Kinder der Kriegskinder, also die Generation der „Babyboomer“ – hier auch „Kriegsenkel“ genannt – die von den traumatischen Erlebnissen ihrer Eltern eingeholt werden. 

    36 unbekannte und einige Prominente und ihre Erinnerungsstücke in den Blickpunkt gerückt

    Vor und nach diesem Intermezzo rücken 36 unbekannte und einige prominente Kriegskinder und ihre Erinnerungsstücke in den Blickpunkt. Menschen und Dinge – jeweils einfühlsam fotografiert von Dmitrij Leltschuk. 

    Die Alltagsgegenstände – das kleine Portemonnaie, eine Trillerpfeife, die unvermeidliche Kaffeemühle, aber auch Besteck, das durch die Hitze des Feuers nach einem Luftangriff verformt wurde – erzählen nicht nur Geschichten, die in den Familien weitergegeben werden, sondern hatten für das Autorenpaar Goos einen speziellen Effekt: „Vielleicht fiel es den Menschen leichter, über etwas Abstraktes wie Angst, Einsamkeit, Trauer oder Zerstörung zu sprechen, wenn man sie nach etwas Konkretem fragte.“

    Hanna Schygulla in ihrer Wohnung in Paris.
    Hanna Schygulla in ihrer Wohnung in Paris. Foto: Dmitrij Leltschuk, Verlag

    Es ist ein Kochtöpfchen der Firma Fissler, das Hanna Schygulla nicht nur durch ihr Leben, also auch durch Kindheit und Vertreibung begleitet, sondern noch heute in ihrer Pariser Wohnung steht und dort immer noch in Betrieb ist. „Für mich ist es eine Reliquie“, schreibt die Schauspielerin, Jahrgang 1943, die durch ihre Rollen in Filmen von Rainer Werner Fassbinder berühmt wurde.

    Eine Reliquie, die für Schygulla ein „Symbol für Mitgefühl, Wärme und Freundlichkeit“ ist. Dabei denkt sie allerdings weniger an die Mutter, die in dem Töpfchen Grießbrei kocht, als an die Herzlichkeit einer bayerischen Frau, die der Familie den Topf kurz nach der Flucht aus der Heimat Oberschlesien mit der Bemerkung schenkt: „Dass euch schön warm wird bei uns!“

    „Polenmatz“ wird Hanna Schygulla nach der Vertreibung gerufen

    Ein Lichtblick, denn Hanna leidet in Bayern unter Ausgrenzung. „Polenmatz“ wird sie in der Schule gerufen. Die Mutter tut alles für ihre Kinder, zärtlich ist sie aber nicht. Vor dem Vater hat Hanna Angst. „Voller Wut“ sei er aus der Gefangenschaft gekommen, zunächst unfähig über seine Erlebnisse an der italienischen Front zu reden. Doch dann spricht er doch. Über Kinder beispielsweise, die beim Wasserholen in unmittelbarer Nähe durch Granaten „zerfetzt“ wurden. Die Mutter habe ihren Vater nicht auffangen können. „Sie waren beide Opfer des Krieges.“ Doch in den vergangenen Jahren nähern sich Tochter und Vater an. „Dieser Abschluss war wichtig für mich“, schreibt Hanna Schygulla.

    Die Schauspielerin Marie-Luise Marjan an der Außenalster in Hamburg.
    Die Schauspielerin Marie-Luise Marjan an der Außenalster in Hamburg. Foto: Dmitrij Leltschuk, Verlag

    Die Schauspielerin Marie-Luise Marjan hat sich als Mutter Beimer in der ARD-Dauersendung Lindenstraße in das deutsche Fernseh-Gedächtnis eingebrannt. Auf ihrem Taufschein, der im August 1940 ausgestellt wird, steht Marlies Wienkötter, Geburtsort Essen. Die leibliche Mutter fühlt sich überfordert, lässt sie nach der Geburt im Krankenhaus zurück. Marlies, die sich später Marie-Luise nennt, wächst bei Adoptiveltern auf. Hanni und Emil Kraus – so heißen ihr „neuen“ Eltern.

    Die Kaffeemühle weckt bei Marie-Luise Marjan bittersüße Erinnerungen. An die Nähe und Vertrautheit zur Adoptivmutter, die in der Mühle gemeinsam mit Marie-Luise im Wald gesammelte Bucheckern mahlt. Mehl für Plätzchenteig entsteht daraus. Solche Momente der Geborgenheit wechseln mit dem Grauen des Krieges – den Toten, die auf dem Bürgersteig von Hattingen an der Ruhr nach Luftangriffen liegen. Dann das verwirrende Gefühl, als Marie-Luise mit 15 Jahren erfährt, dass sie nicht bei ihren leiblichen Eltern lebt. Aber auch ihr starker Wille, sich zu behaupten und Schauspielerin zu werden. Was macht es da schon aus, dass Marie-Luise Marjan das verloren gegangene Original mit dem zierlichen Drehgriff Anfang der Sechzigerjahre durch ein fast identisches Modell vom Flohmarkt ersetzt?

    Eine alte Kaffeemühle löst bei Marie-Luise Marjan bittersüße Erinnerungen an die Kriegszeit aus.
    Eine alte Kaffeemühle löst bei Marie-Luise Marjan bittersüße Erinnerungen an die Kriegszeit aus. Foto: Dmitrij Leltschuk, Verlag

    „Ich hatte noch nie zuvor einen Toten gesehen. Und plötzlich sah ich hunderte, tausende.“ Gerhart Baum ist zwölf Jahre alt, als nicht nur sein Elternhaus am 14. Februar 1945 in Flammen aufgeht, sondern weite Teile seiner Heimatstadt Dresden von Bombern in Schutt und Asche gelegt werden. Das Ende einer Kindheit. Die Mutter flieht mit drei Kindern, findet Zuflucht am Tegernsee, während die geliebte Großmutter darauf beharrt, in Dresden zu bleiben. Ihr schickt Gerhart Baum – später FDP-Innenminister unter Kanzler Helmut Schmidt und mit 91 Jahren noch immer präsent in den Medien – eine selbst gefertigte Zeichnung von dem Haus in Bayern, in dem sie zunächst unterkommen. Sein Erinnerungsstück. „Und dann kommt alles wieder hoch“, schreibt Baum.

    Ein Gefühl, dass viele Kriegskinder kennengelernt haben. In einem Interview am Ende des Buches spricht die Therapeutin Ingrid Mayer-Legrand das Phänomen an, dass Kriegstraumata oft in die nächste Generation hineinwirkten. Sie nimmt den Faden aus dem Gespräch mit dem Schriftsteller Paul Maar wieder auf. „Auffällig ist, dass auch die Kriegsenkel von ihren Eltern ähnlich gefühllos und ohne große Körperberührung erzogen wurden wie die Generation davor. Die Vitalität ihrer eigenen Kinder hat den Kriegskindern Angst gemacht.“ Das klingt etwas absolut, ist aber dennoch bedenkenswert. 

    Von den zwischen 1939 und 1945 rund 17 Millionen eingezogenen Wehrmachtssoldaten starben bis zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 über 4,7 Millionen. Das heißt gleichzeitig, dass mehr als zwölf Millionen überlebten. Die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung gab es damals noch nicht. Traumatisiert aber dürfte nicht nur ein großer Teil der Soldaten, sondern auch viele Frauen, Männer und Kinder, die den Krieg in den Grenzen des Reiches erlebten, gewesen sein.

    Es ist ein Verdienst dieses Buches, dass man die Generation der Kriegskinder besser zu verstehen lernt. Meyer-Legrand: „Sie haben getan, wozu sie in der Lage waren. Aber sie waren halt auch ein Produkt ihrer Zeit.“

    Cover Warum hängt daran dein Herz
    Cover Warum hängt daran dein Herz Foto: Verlag

    Anette Goos, Hauke Goos; „Warum hängt daran dein Herz“, 384 Seiten, 28 Euro, Verlag DVA. 

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden