Es gab schon Treffer im Dorf. Gleich am Ortseingang steht die erste Ruine. Rußgeschwärzte Fensterhöhlen inmitten halb gebrochener Wände, der Rest einer Tür hängt in den Angeln. Darüber ragen verkohlte Dachbalken in den grauen Winterhimmel. In der Ferne wummert die Artillerie. Bramm, bramm, bramm. Dumpfes Getöse.
Antonina schiebt ihr Fahrrad ein wenig schneller. Ein klappriges Gefährt, hellblau gestrichen, ohne jedes Schutzblech. Der Gummi der Reifen zieht Spuren im feuchten Erdreich am Straßenrand. Am Lenker baumeln Plastiktüten. Es ist still geworden im Dorf. Nur der Krieg ist zu hören. Kein Durchgangsverkehr mehr, auf der Straße sind kaum noch Menschen zu sehen. Mehr als die Hälfte der Bewohner sind geflohen. Keine 20 Kilometer entfernt verläuft die Front. Was von dort zu hören ist, erzählt von heftigem Kampf. Antoninas Dorf liegt nahe dem Kampfgebiet im Donbas. Dort herrscht kein Frieden mehr, aber die Schlacht hat auch noch nicht begonnen.
Zwei Mal im Monat kommen die Ärzte in das Dorf nahe der Front
Zwei Geländewagen strahlen in Weiß vor dem einstöckigen Gemeindezentrum in der Ortsmitte. „Die Ärzte sind schon da“, freut sich Antonina. Sie lehnt ihr Fahrrad an das Metallgitter des Zauns. Dann die Treppenstufen hinauf und die knarrende Türe geöffnet. Im Eingangsbereich warten schon die Patientinnen und Patienten. Glühlampen geben ein gelbstichiges, dämmriges Licht. „Das ist ja die halbe Nachbarschaft“, sagt die 68-Jährige augenzwinkernd. Ein halbes Dutzend älterer Damen sitzt auf den Stühlen, die nahe der Wände aufgereiht stehen. Ein älterer Mann blickt ihr mit sorgenvollem Gesicht entgegen, ein etwas jüngerer lehnt an einer geschlossenen Tür. Ein beleibterer Rentner hat es sich neben dem mannshohen Wasserbehälter bequem gemacht. Antonina wird warten müssen.

Zwei Mal im Monat kommt das mobile Team der Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“ in das Dorf. Unter anderem eine Gesundheitspromoterin, eine Frauenärztin und ein Allgemeinmediziner stehen den Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern zur Verfügung. Sie untersuchen, verschreiben und verteilen kostenfreie Medikamente, nehmen Blut für das Labor ab. Überprüfen, ob die Medikamente regelmäßig und korrekt eingenommen werden. Auch Antonina hat ihr Medizin-Tagebuch in der festen Plastiktüte, auf der Zeitungsseiten in Schwarz-Weiß aufgedruckt sind. Darin verzeichnet sie, wann und welche Medikamente sie einnimmt.
Leicht hatte es Antonina nie, doch klagen will sie nicht
„Ich kann nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir auf die ,Ärzte der Welt‘ zählen können“, sagt die Seniorin. Die nächste Praxis ist in der Stadt Druschkiwka. Das ist gut eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Der Weg führt über oft mit Schlaglöchern übersäten Asphalt. „Der Bus einer Hilfsorganisation geht einmal die Woche. Erwischt man die Rückfahrt nicht mehr, findet sich kaum ein Fahrer, der unser Dorf ansteuert. Ihnen ist der Weg zu weit, sind die Straßen zu schlecht und vielleicht auch die Front zu nahe. Was sie verlangen, kann ich mir nicht leisten“, erklärt Antonina. Umgerechnet 105 Euro Rente bekommt sie. Die Taxifahrt würde ihr bis zu 20 Prozent ihrer monatlichen Altersversorgung kosten. „Auch die Medikamente könnte ich mir schlicht nicht leisten. Zum Glück bekommen wir sie kostenlos. Die Lebensmittel im Dorfladen werden auch immer teuerer. Es sind schwere Zeiten“, merkt die Seniorin an.
Nach der Schulzeit begann Antonina als Melkerin in einer Kolchose zu arbeiten. Heiratete, bekam vier Kinder. „Zwei Söhne haben das Down Syndrom. Sie sind fleißig und können helfen“, sagt die Mutter. Doch die beiden Männer brauchen heute ebenfalls regelmäßig Medikamente. Als Antonina 41 Jahre alt ist, stirbt ihr Mann. „Leicht hatte ich es selten im Leben als Witwe mit vier Kindern. Aber ich will nicht klagen“, so die Seniorin leise.
Vor dem 24. Februar 2022, dem Tag der Invasion, war im Dorf alles gut
Draußen kracht mit einem Schlag der Klang der Artillerie in das „Wartezimmer“ herein. Antonina zuckt leicht zusammen. „Wir hatten das Dorf wegen dem Krieg schon verlassen. Waren weiter im Westen. Aber wie soll ich mit meiner kleinen Rente eine Miete bezahlen? Hier leben wir im eigenen Häuschen und können im Garten wenigstens ein wenig Gemüse anbauen“, erklärt sie ihre Rückkehr. Dann fügt sie hinzu: „Gestern gab es Explosionen, dass unsere Fenster gewackelt haben. Wir alle hier haben Angst.“ Die Kämpfe im Donbas nehmen seit Monaten an Intensität zu. Ganze Städte und Dörfer sind nur noch Trümmerfelder. Allein im Dezember konnten die Angreifer 510 Quadratkilometer Fläche gewinnen.

Antonina erzählt, wie gut alles im Dorf vor dem 24. Februar 2022, dem Tag der Invasion, war. Vom Bus, der täglich fuhr. Der großen Schule, auf die sie alle stolz waren. Dann kommt sie an die Reihe. Ihor ist ihr behandelnder Arzt. Ein großer Mann mit kurzen, grauen Haaren und hellen, blauen Augen. „Kommen Sie, Frau Antonina“, ruft er ihr freundlich zu. Das Behandlungszimmer ist ein kleiner Saal. Am Zimmerende hinter Ihors Schreibtisch und neben dem Fenster hängt die ukrainische Fahne. Ihor ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Vor Beginn der umfassenden russischen Invasion auf die Ukraine arbeitete er für ein pharmazeutisches Unternehmen. „Als russische Truppen in meine Heimat einmarschierten, wusste ich, jetzt will ich wieder als Arzt arbeiten. Das ist meine Pflicht“, sagt der 47-Jährige. Der Krieg kam in Windeseile bis vor die Tore seiner Heimatstadt Mykolajiw. Die Front zog sich zeitweise schon durch die Vororte.
Mediziner Ihor: „Ich will in dieser schweren Zeit bei den Menschen sein“
Ihor fuhr damals für die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ mit mobilen Teams selbst in die von Russland besetzten Gebiete. „Das war bitter nötig. Die Menschen dort erhielten keinerlei medizinische Versorgung“, erklärt der Mediziner. „Die Gefahrenlage war wesentlich höher als hier“, fügt er hinzu. Jetzt arbeitet er für „Ärzte der Welt“, die im nahen Kramatorsk Büro und Lagerhaus unterhalten. Eine der wenigen internationalen Organisationen, die so nahe an der Frontlinie mit eigenem Personal vor Ort sind.
Für Ihor ist das wichtig. „Ich will in dieser schweren Zeit bei den Menschen sein“, betont er. So packen er und das Mediziner-Team fünf Mal in der Woche eine „Arztpraxis“ in große Tragetaschen. Dann geht es mit den weißen Geländewagen in die Dörfer der grauen Zone. Möglich macht das eine Finanzierung durch das Auswärtige Amt. Im Bereich Kramatorsk wird so der Einsatz von drei Mobilen Teams ermöglicht: eines von „Ärzte der Welt“ direkt, zwei der lokalen Partner-Organisation „Our Help“.
Der Krieg löst bei den Dorfbewohnern Schlafstörungen und Ängste aus
Insgesamt sind acht Mobile Teams der deutschen Sektion von „Ärzte der Welt“ oder ihren Partnern in der Ukraine unterwegs. Finanziert unter anderem mit Mitteln des Auswärtigen Amts, des Bundesentwicklungsministeriums sowie der Else Kröner-Fresenius-Stiftung. 41.738 Konsultationen in der Basis-Gesundheitsversorgung, im Rahmen frauenärztlicher Versorgung und psychosozialer Unterstützung konnten so seit Beginn der Invasion geleistet werden.

Zahlen, auf die Ihor stolz ist. „Noch mehr bin ich aber auf unsere Patientinnen und Patienten stolz. Auf ihre Resilienz in dieser schwierigen Zeit“, sagt der Arzt. Der Krieg verursacht bei Antonina und den anderen Dorfbewohnern Stress. „Das hat psychosomatische Auswirkungen, die nicht zu unterschätzen sind“, erklärt der Arzt. Er berichtet von Schlafstörungen und Angstzuständen. Die sind in der ganzen Ukraine durch die Folgen des Kriegs eine gewaltige Herausforderung: Laut Statistiken des Gesundheitsministeriums haben rund 90 Prozent der Bevölkerung mentale Gesundheitsprobleme von Schlafstörungen bis zu schweren Depressionen. Ein Leben nahe der Front verschärft die Lage noch einmal.
Bis 2022 herrschte im Donbas ein vor sich hin köchelnder Stellungskrieg
Ein Arzt, der in einem Kriegsgebiet praktiziert, muss ganz besonders auf die mentale Gesundheit seiner Patientinnen und Patienten achten. Ihor hat deswegen in Online-Kursen abends ein Zusatzstudium der Psychologie abgelegt. „Was für die Menschen hier von besonderer Wichtigkeit ist: Wir bringen ihnen in all dieser Ungewissheit ein Stück Sicherheit“, führt der Arzt aus. Eine Gesundheits-Promoterin hilft den oft betagten Patientinnen und Patienten, dass sie bei der Einnahme ihrer Medikamente eine Struktur aufbauen. „Dazu verteilen wir unsere Patienten-Tagebücher, in die alles eingetragen wird. Und das klappt gut“, zeigt sich Ihor zufrieden.
Dann wird er nachdenklich. Der 47-Jährige erinnert daran, dass in der Gegend schon seit 2014 die Front nahe war. Damals trugen russische Truppen den Krieg in den Donbas und installierten eine Pseudo-Separatisten-Regierung. Bis 2022 herrschte im Donbas ein vor sich hin köchelnder Stellungskrieg. „Richtigen Frieden kennen unsere Patientinnen und Patienten schon lange nicht mehr“, sagt Ihor.
Manchmal träumt sich Ihor seinen Frieden herbei
Und die eigene Belastung? Ihor bleibt da eher wortkarg. Manchmal träumt er sich seinen Frieden herbei, ist von ihm zu erfahren. Für die eigene mentale Gesundheit schnallt er sich gelegentlich Rollschuhe an und fegt im langen Bürotrakt der „Ärzte der Welt“ über den Gang. „Ein bisschen Spaß muss sein“, lacht er. „Ich bin begeisterter Volleyballer“, verrät er. Dann zieht er sein Smartphone heraus, wischt kurz durch seinen Foto-Ordner und zeigt ein Team-Foto. Ein halbes Dutzend Männer mit kurzen Sporthosen und Trikots lacht in die Kamera. „Da waren wir in den Arabischen Emiraten bei einem Turnier. Das war kurz vor der Invasion“, erzählt er. Und hält inne. Von draußen hört er den Klang der Artillerie von der nahen Front. Das Bild auf seinem Foto stammt aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Arabische Emirate… Ihor schüttelt den Kopf. Dann kommt schon die nächste Patientin durch die Tür.

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