Seit über 20 Jahren arbeiten Sie im Bereich militärischer Konflikte, Kriege und Krisen. Warum haben Sie dieses Thema und diesen Bereich gewählt? In welchen Ländern und über welche Kriege haben Sie geschrieben?
TILL MAYER: Es dürften mittlerweile rund 30 Kriege und Konflikte gewesen sein – vom Kongo bis in den Irak. Ich arbeite anders als die üblichen Kriegsreporter und -fotografen. Meist berichtete ich von Konflikten, wenn diese aus den Schlagzeilen verschwunden sind. Die Journalisten wieder das betroffene Land verlassen haben. Aber das Leid der betroffenen Menschen geht ja trotzdem weiter. Gerade dann ist es wichtig, diesen Menschen mit meiner Arbeit eine Stimme geben. Menschen, denen Unrecht geschieht, wollen gehört werden. Sie haben ein Recht darauf. In der Ukraine begann ich 2017, den Krieg im Donbass als Langzeit-Projekt zu dokumentieren. 2016 drehte ich in Kyjiw eine Dokumentation mit einem guten Freund: Pirmin Styrnol. Das Thema waren traumatisierte Kinder aus dem Donbass. Der Krieg im Donbass, er fand im Herzen von Europa statt. In meiner Heimat Deutschland war er weitgehend verdrängt. Das empfand ich als sehr gefährlich.
Soweit ich verstehe, haben Sie schon lange vor dem Krieg über die Ukraine geschrieben. War das im Rahmen eines Projekts des Roten Kreuzes? Worüber haben Sie bei Ihrem ersten Besuch in der Ukraine berichtet? Welchen Eindruck hatten Sie damals von dem Land?
MAYER: 2007 porträtierte ich KZ-Überlebende in Lwiw und Umgebung für ein Buch und eine Ausstellung. Es gab dort ein kleines Rotkreuz-Projekt für diese tapferen Menschen. Diese Reise prägte mich. Die Ukraine lernte ich über die Vergangenheit kennen. Ich sah, was mein eigenes Land einst Menschen aus der Ukraine antat. Ich verstand, wie fundamental ein einiges und freies Europa für eine friedliche Zukunft ist. Und ich begann, mich mehr und mehr für die Geschichte der Ukraine zu interessieren. Das war wichtig, denn das Wissen über die Hintergründe sind fundamental, wenn man zum Beispiel heute den brutalen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verstehen will. Die Ukraine wuchs mir bei weiteren Recherche-Reisen immer mehr ans Herz, auch weil ich immer so viel Unterstützung vor Ort erfuhr. Einige meiner Reportagen brachten viele Spenden ein, sodass ich mithelfen konnte, ein kleines Projekt für alte Menschen in Not in Lwiw aufzubauen. Hier engagiere ich mich weiterhin ehrenamtlich seit rund 15 Jahren. In all den Jahren sah ich auch, wie sich das Land veränderte. Die Menschen Freiheit und Demokratie einforderten. Dafür bereit waren zu kämpfen. So wie sie heute immer noch in einer schwer zu ertragenden Weise tun müssen.
Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass Russland in Kürze die Krim annektieren würde und der Krieg im Donbass in der Ukraine ausbrechen würde? Wie und wann haben Sie angefangen, darüber zu berichten? Was haben Sie gesehen und gefühlt, als Sie zum ersten Mal an der Front im Donbass waren?
MAYER: Wie viele Deutsche unterschätzte ich vor 2014 den russischen Imperialismus, Putin unabdingbares Streben nach einem Großreich. Als ich 2017 die endlosen Schützengräben im Donbass sah, war ich erschrocken. Das war kein eingefrorener Konflikt, sondern ein vor sich hinköchelnder Stellungskrieg mit Toten und Verwundeten. Bei anderen Aufträgen in Afrika sah ich den wachsenden Einfluss Russlands. Etwas Bedrohliches war weltweit in Bewegung geraten. Und es nimmt heute in erschreckender Weise immer mehr an Fahrt auf. Schon 2017 schrieb ich in meinem Buch „Dunkle Reisen“, dass wieder ein großer Krieg droht.
Haben Sie den Warnungen ausländischer Geheimdienste geglaubt, dass Russland in größerem Maßstab in die Ukraine einmarschieren würde? Wie haben Sie sich gefühlt, als es tatsächlich passierte?
MAYER: Als Putin in einem Essay im Sommer 2021 der Ukraine letztlich ihre Staatlichkeit absprach, befürchtete ich Schlimmes. Mitte Februar 2022 wartete ich zusammen mit meinem ukrainischen Kollegen Oles Kromplias in Pisky, einer Stellung der ukrainischen Armee nahe Donezk auf den Beginn der Invasion. Dann musste ich wenige Tage später für einen Auftrag nach Afghanistan. Als ich in Kabul landete, begann am gleichen Tag die vollumfassende Invasion in der Ukraine. Ich kehrte in die Ukraine zurück, so schnell es mir möglich war.
Was war Ihr erster Bericht über den großen Krieg in der Ukraine? Hatten Sie Angst, als Sie damals in die Ukraine reisten? Wenn Sie den Krieg im Donbass mit dem aktuellen großen Krieg vergleichen, was sind die Hauptunterschiede?
MAYER: Nachdem ich meinen Auftrag in Afghanistan umgesetzt hatte, reiste ich direkt in die Ukraine. Das war dann Anfang März 2022. Ich habe nie Angst bei meinen Einsätzen, aber stets Respekt vor der Situation. Die war natürlich jetzt eine völlig andere. Es ging beispielsweise bald nach Kyjiw. Die Stadt war gespenstisch leer und still, außer den Geräuschen des Kriegs. Niemand wusste, ob die Hauptstadt gehalten werden kann. Jetzt, Anfang 2025, frisst sich die russische Militärmaschinerie Stück für Stück im Donbass vor. Ganze Städte und Dörfer werden ausgelöscht. Es ist ein unbarmherziger Vernichtungskrieg, denn Russland führt. Es schmerzt mich, das zu sehen. Ich befürchte, zum Kampf gibt es keine Alternative. Diktatoren wie Putin geben keine Ruhe. Er hat einen Plan und davon wird er sich langfristig nicht abbringen lassen. Er muss in seine Grenzen gewiesen werden. Putin versteht nur Stärke. Kompromiss bedeutet Schwäche für ihn.
Jetzt reisen Sie jeden Monat in die Ukraine. Wie ist Ihre Arbeit dort aufgebaut? Sind Sie jedes Mal an einem anderen Ort? Wer hilft Ihnen? Verstehen Sie Ukrainisch? Waren Sie jemals in gefährlichen Situationen, unter Beschuss?
MAYER: Ich habe das Glück, mit einem guten Freund zusammenzuarbeiten: Mit dem ukrainischen Fotografen Oles Kromplias dokumentiere ich seit 2017 zusammen Krieg in der Ukraine. Für meine deutschen Leserinnen und Leser versuche ich, bei jeder Reise je eine Reportage aus dem Kampfgebiet und eine aus dem Hinterland mitzubringen: zum Beispiel über Drohnenpiloten, die 1,5 Kilometer vor den russischen Linien operieren, und eine Kriegerwitwe, die in Kyjiw um ihren Mann trauert. Ich will zeigen: Der Krieg greift den Menschen in der ganzen Ukraine ins Herz. Er betrifft alle. Nicht nur in den umkämpften Gebieten.
Wie wählen Sie Ihre Themen und Protagonisten aus?
MAYER: Ich erzähle den Krieg anhand der Menschen, die ihn erleben. Oles und ich haben beide ein gutes Netzwerk. Manche Reportagen entstehen aus Empfehlungen von Freunden, andere passieren einfach vor Ort. Auch über Empfehlungen meiner Instagram- und Facebook-Follower kam es schon zu Reportagen. Mir ist wichtig, dass sich meine Leserinnen und Leser mit den Protagonisten meiner Geschichten identifizieren können. Es geht um Menschen in diesem Krieg, nicht um Zahlen. Ich erzähle von Mut, Trauer und Tapferkeit und setzte schnelllebigen Meldungen Tiefgang entgegen.
Was sind Ihre liebsten oder wichtigsten Berichte oder Fotos aus der Ukraine? Welche Geschichten sind bei Ihnen besonders hängen geblieben?
MAYER: Im Frühherbst 2022 porträtierte ich in einem gerade befreiten Dorf bei Kupiansk eine Mutter, die gerade aus lauter Verzweiflung ihren Sohn in einem Granatentrichter vor ihrem Haus begraben hatte. Russische Soldaten hatten ihn getötet. Die Ruinen rauchten noch, am Straßenrand lagen in Bodybags gefallene russische Soldaten. Ukrainische Truppen rückten eilig vor. Es war ein grausamer, harter Tag. Das Interview mit Jelena werde ich nie vergessen. Sie wollte Gerechtigkeit für ihren Sohn. Mit mir zu sprechen, muss ihr unendlich viel Kraft gekostet haben. Und: Bis heute bin ich dankbar, dass ich die Befreiung von Cherson erlebte. Die Menschen standen am Straßenrand, manche weinten vor Erleichterung und Freude. Ich durfte Geschichte erleben. Und was für ein Anlass! Das war ein unglaubliches Geschenk. Bei einer späteren Reise interviewte ich einen Folterüberlebenden in Cherson. Es ist unfassbar, was dieser Mann durchstand.

Die Fotos, die Sie auf Ausstellungen zeigen, sind in Schwarzweiß. Warum ist das so?
MAYER: Ich fotografiere in Farbe, da meine Kunden – Zeitungen, Magazine und Internetportale – Farbfotos verlangen. Für eigene Projekte, wie Bücher und Ausstellungen, arbeite ich mit Schwarzweißbildern. Für mich konzentrieren sie den Blick auf das Wesentliche. Farbe kann ablenken. Ein Freund von mir, Christian Seuling, layoutet meine Bücher. Er hat als Grafiker viele Jahre in Japan gearbeitet. Seine minimalistische Designsprache passt zu den Bildern und sorgt respektvoll dafür, dass die Menschen auf den Bildern im Mittelpunkt stehen. Mein neuestes Buch „Europas Front – Krieg in der Hilfe“ ist das dritte in einer Reihe: „Donbass – Europas vergessener Krieg“ (2019) und „Ukraine – Europas Krieg“ (2022). Es ist jetzt auch auf Ukrainisch gerade im Dukh-i-Litera-Verlag mit Unterstützung der deutschen Botschaft in Kyjiw erschienen. Das Layout ist das gleiche wie bei der deutschsprachigen Variante. Mit der ukrainischen Ausgabe ging ein Herzenswunsch von mir in Erfüllung. Es war mir aus vielen Gründen sehr wichtig. Ich bin gespannt, wie das ukrainische Publikum das Buch aufnimmt.
Wenn Sie von Deutschen gefragt werden, wie die Ukraine ist, was antworten Sie dann? Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste, was die deutschen Leserinnen und Leser über die Ukraine erfahren sollten?
MAYER: Ich sage ihnen, dass die Ukraine ein Land ist, in dem die Menschen tapfer für ihre Freiheit kämpfen. In einem Krieg, der ihnen aufgezwungen wurde und ihnen Unerträgliches abverlangt. Dass die Ukraine ein Land ist, an dessen Zukunft ich dennoch fest glaube, weil ich an die Menschen der Ukraine glaube. Ich versuche, meinen Landsleuten zu erklären, dass der Ausgang des Kriegs in der Ukraine das Schicksal für ganz Europa bestimmt. Die Soldaten an der Front in der Ukraine verteidigen auch meine Freiheit in Deutschland. Dafür bin ich dankbar. Leider verstehen das viele Deutsche nicht. Das Verdrängen beginnt wieder. Dagegen kämpfe ich an. Das ist meine Aufgabe.

Sie sind einer der wenigen deutschen Journalisten, die schon seit langem über die Ukraine berichten. Warum bleiben Sie so lange an dem Thema „Ukraine“?
MAYER: Journalismus bedeutet für mich, bereit zu sein, sich über Jahre mit einem Thema zu beschäftigen. Leider nimmt diese Bereitschaft immer mehr in den Medien ab. Es wird zunehmend nur schnell und oberflächlich erzählt. Doch die Wahrheit braucht Tiefe, sie braucht Platz, um respektvoll erzählt zu werden. Denn sie hat meist viele Seiten. Es ist mir eine Ehre, aus der Ukraine zu berichten. Ich bin den Menschen dankbar, die mir ihre Geschichten geben. Oft bereitet ihnen das Erzählen Schmerzen. Dennoch öffnen sie mir ihre Türen. Vielleicht auch deshalb, weil sie spüren, dass ich es ernst mit ihnen meine. Das sind wertvolle Geschenke für mich. Ich habe in der Ukraine alles gefunden, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Der Ausgang des Kriegs ist schicksalshaft für ganz Europa.
Die Situation an der Front ist schwierig und die Ukraine könnte unter ungünstigen Bedingungen zum Frieden gedrängt werden. In Deutschland gibt es immer mehr Anhänger derjenigen, die vorschlagen, mit Putin zu verhandeln und weiterhin billiges russisches Gas zu beziehen. Welche Folgen wird die Niederlage der Ukraine für Deutschland haben?
MAYER: Eine Niederlage der Ukraine droht, mittelfristig zu einem europaweiten Krieg zu führen. Putin will mehr als nur die Ukraine. Er will die Balten-Staaten, Teile Polens, Georgien, Moldawien und die Vormacht in ganz Europa. Wir leben in einer Zeit, in der sich entscheidet, ob Demokratie und Freiheit noch Zukunft haben. Beides sind ist kein Geschenk, sie müssen erkämpft und immer wieder verteidigt werden. Freiheit muss für alle Menschen gelten. Wer das nicht versteht, versteht das Prinzip der Freiheit nicht. Niemand darf zurückgelassen werden. Sonst wird es sich rächen. Nur Menschen, die trotz aller Unterschiede und verschiedener Sichtweisen respektvoll füreinander einstehen, können in Freiheit leben. Im System Putin ist das nicht möglich. Es ist das Gegenteil der Vielfalt, die Freiheit zum Atmen braucht. Europa muss jetzt zusammenstehen. Mit Putin und Trump machen sich zwei Demokratiefeinde daran, über die Zukunft der Ukraine zu feilschen. Das Ergebnis wird kein Gutes im Sinne von Freiheit und Demokratie sein. Vielleicht hofft Trump sogar darauf, ein Bündnis mit Putin gegen China zu schmieden. Putin wird als seinen Lohn dafür nicht nur die Ukraine einfordern, sondern seine Vormacht in ganz Europa. Aber es ist schwer, den langfristigen Kurs von Trump abzuschätzen. Nur eines kristallisiert sich mehr und mehr heraus: Wie Putin scheint auch Trump am Imperialismus gefallen zu finden. Menschlichkeit, internationales Recht, eine faire Zusammenarbeit, das hat bei beiden keinen Stellenwert. Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters.
Im Vorfeld der Bundestagswahl ist die Ukraine zu einem der zentralen Themen von Wahlprogrammen und Wahlkampf geworden. Einige Politiker versprechen, sie weiterhin zu unterstützen, während andere, wie die AfD und BSW, die militärische Hilfe für die Ukraine ablehnen. Wird das zukünftige deutsche Parlament auf der Seite der Ukraine stehen?
MAYER: Die Regierung wird auf der Seite der Ukraine stehen. AfD und BSW werden nicht Teil der Regierung sein. Doch es ist notwendig, immer und immer wieder daran zu erinnern, was der Krieg in der Ukraine für ganz Europa bedeutet. Denn in ganz Europa erstarken rechtsextreme Parteien, auch und gerade dank der massiven Unterstützung Putins. Es sind die Totengräber der Demokratie. Ihre Engstirnigkeit und ihre Lügen führen letztendlich immer zu neuen Kriegen.
Zur Person
Das Interview führte die ukrainische Journalistin Viktoriia Chernykova-Berezdetska mit Till Mayer. Dieser dokumentiert den Krieg im Osten der Ukraine schon seit 2017. Till Mayer arbeitet als Fotograf (www.tillmayer.de) und für die Augsburger Allgemeine. Seit dem Beginn der Full-Scale-Invasion im Februar 2022 berichtet er regelmäßig für unsere Redaktion über die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Für seine Fotos und Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Im ibidem-Verlag ist jüngst sein Reportagenband „Europas Front – Krieg in der Ukraine“ erschienen.
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