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Zeitgeschichte : Eine stille Revolution mit Folgen bis heute

Zeitgeschichte

Eine stille Revolution mit Folgen bis heute

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    Vereint am KSZE-Konferenztisch in Helsinki: Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem DDR-Staatssekretär Erich Honecker. Rechts daneben der Präsident der US-Präsident Gerald Ford.
    Vereint am KSZE-Konferenztisch in Helsinki: Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem DDR-Staatssekretär Erich Honecker. Rechts daneben der Präsident der US-Präsident Gerald Ford. Foto: dpa

    Bündnisse bröckeln, Machtverhältnisse werden durcheinandergewirbelt, Strukturen pulverisiert, effektive Kommunikation zwischen den Staaten gelingt immer seltener – kurzum, die politische Lage ist unübersichtlich, Krisen und Kriege sind an der Tagesordnung. Regelrecht zementiert hingegen erschien den Zeitgenossen die Weltlage am 1. August 1975, dem Tag der Unterzeichnung der Schlussakte der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ (KSZE) in Helsinki.

    Für hochaktuell hält der Historiker Manfred Görtemaker die KSZE und ihre Folgen: „Sie hat die europäische Staatenordnung revolutioniert. Wenn man diese Zusammenhänge nicht kennt, versteht man die heutige Welt nicht mehr. Dann kann man den Ukraine-Krieg und die Rolle des russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht richtig einordnen“, sagt der emeritierte Professor im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Experte sieht die KSZE als wichtigsten Wendepunkt im Kalten Krieg neben der Kuba-Krise von 1962, aus der zunächst die Rüstungskontrollpolitik und dann die Entspannungspolitik resultierte.

    Die Initiative für eine europäische Sicherheitskonferenz kam vom Warschauer Pakt

    Es war der Warschauer Pakt, der bereits in den 60er Jahren den Vorschlag für eine Sicherheitskonferenz europäischer Staaten vorlegte. Der Westen, insbesondere die Führungsmacht USA, reagierte skeptisch. Doch das änderte sich um 1970 herum, auch weil die neue Ostpolitik der Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD) bereits an Fahrt gewonnen hatte.

    Am 3. Juli 1973 wurde nach mehreren Vorbereitungstreffen ein Prozess eingeleitet, der am 1. August 1975 zur Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte durch 35 Staats- und Regierungschefs führte. Auf diese Weise sollte eine blockübergreifende Sicherheitsordnung entstehen – als Instrument, um die Spannungen zwischen den westlichen Nato-Staaten und dem von der Sowjetunion beherrschten Warschauer Pakt zu kanalisieren und zu entschärfen.

    Vereinbart wurde eine engere Zusammenarbeit auf den Feldern Ökonomie, Wissenschaft, Kultur und Bildung. Als heikel für die Ostblockstaaten sollten sich die Themen erweisen, die im „dritten Korb“ der Verhandlungsschwerpunkte lagerten: Da ging es um humanitäre Fragen wie Familienzusammenführung, Möglichkeiten zu reisen oder auszuwandern, Pressefreiheit und die Akkreditierung von Journalisten. Um den Stand der Umsetzung dieser Ziele zu kontrollieren, fanden in regelmäßigen Abständen die sogenannten KSZE-Folgekonferenzen statt.

    Die Erwartungen der Blöcke an den KSZE-Prozess gingen weit auseinander

    Als der KSZE-Prozess 1973 mit europäischen Staaten, den USA und Kanada in Helsinki startete, lagen die Ziele der Delegationen weit auseinander. Görtemaker: „Die Sowjets waren massiv an der Modernisierung ihrer Wirtschaft interessiert und das ging nur in Kooperation mit dem Westen. Der Westen hat die Bedingung gestellt, dass auch über Menschenrechte gesprochen wird.“ Es zeigte sich aber auch, dass es innerhalb des streng hierarchisch auf die Sowjetunion ausgerichteten Warschauer Pakts durchaus unterschiedliche Interessen gab. So hofften insbesondere Polen und Rumänien auf mehr Spielraum innerhalb des Blocks, während Ost-Berlin den Auftritt bei den KSZE-Verhandlungen als Chance sah, einer internationalen Anerkennung als Staat, nicht zuletzt durch die Bundesrepublik, näherzukommen.

    Nuancen können in der Diplomatie eine erstaunliche Wirkung entfalten. Als die Delegierten 1975 in Helsinki den imposanten Verhandlungstisch beim KSZE-Gipfeltreffen ansteuerten, stellten sie erstaunt fest, dass die Länderkärtchen an den Plätzen französisch beschriftet waren. Ein Coup der Delegation aus Paris? Mitnichten. Ein Schachzug der finnischen Gastgeber, die auf diese Weise den dringenden Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt erfüllten, direkt neben seinem Widerpart aus der DDR, Erich Honecker, zu sitzen. Tatsächlich kommt unmittelbar nach der République Fédérale d’Allemagne (BRD) die République Démocratique Allemande (DDR). Wären die Kärtchen – wie üblich – auf Englisch beschriftet gewesen, hätte es die symbolkräftige Vereinigung von Schmidt und Honecker bei Tisch nicht gegeben. Die Bilder von den ungleichen Sitznachbarn gingen um die Welt.

    Dissidenten hatten ein Dokument in der Hand, auf das sie sich berufen konnten

    Dissidenten und Bürgerbewegungen hatten seit 1975 erstmals ein – wenn auch nicht völkerrechtlich bindendes – Dokument in der Hand, auf das sie sich berufen konnten. Zumal sich alle 35 KSZE-Staaten verpflichtet hatten, die Schlussakte in der Presse zu veröffentlichen. „Insbesondere die Regierung in Moskau unter Generalsekretär Leonid Breschnew glaubte, dass man die Auswirkungen durch den KSZE-Prozess mithilfe des KGB und der Staatssicherheit unter Kontrolle halten kann – das war ein fundamentaler Irrtum“, sagt Görtemaker. In der Tschechoslowakei berief sich Anfang 1977 die oppositionelle „Charta 77“, mitinitiiert vom späteren Staatschef Václav Havel, auf die in der KSZE-Schlussakte festgeschriebenen Menschenrechte. Widerstand formierte sich auch in Polen oder Ungarn. In der DDR pochten ausreisewillige Bürgerinnen und Bürger auf das Dokument. Die Regierungen reagierten mit Überwachung und gewaltsamer Restriktion – letztlich ohne Erfolg.

    Ende der 80er Jahre brach der Warschauer Pakt auseinander. „Putin sieht sich als historische Figur, der die Aufgabe hat, die Folgen zurückzudrehen, die KSZE mit sich brachte. Er will möglichst viel von der alten Supermacht wiederherstellen. Das ist der Grund für die Kriege in Tschetschenien oder Georgien und jetzt in der Ukraine“, betont Görtemaker.

    1995 ging die KSZE in die OSZE mit Sitz in Wien über

    1995 ging die KSZE in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Sitz in Wien auf. Um die Organisation mit 57 Mitgliedsstaaten, darunter nach wie vor Russland, ist es zuletzt relativ ruhig geworden. Doch das muss nicht so bleiben, sagt Manfred Görtemaker: „Wir haben eine Konkurrenzsituation zwischen einer rechtlich basierten Ordnung zwischen den Nationen und der reinen Machtpolitik. Im Moment dominiert die Machtpolitik. Doch irgendwann wird es wieder Gespräche mit den Russen geben. Dann könnte die OSZE als Plattform für Verhandlungen wieder wichtig werden.“

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