Gut 80 Jahre ist es her, dass US-Soldaten das große Hakenkreuz sprengten, das das 16,5 Quadratkilometer große Gelände im Nürnberger Osten beherrschte. Dort, wo früher tausende Braunhemden aufmarschierten, steigt am Wochenende wieder eine der größten Partys im Freistaat: „Rock im Park“. Das Musikfestival wird in diesem Jahr 30. Und auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände werden knapp 90.000 Menschen zum Sound von Slipknot, Rise Against oder Korn feiern. Das erste „Rock im Park“ hatte 1995 noch in Olympiastadion und Olympiapark in München stattgefunden. Für 90 Mark konnte man damals ein Wochenende lang Auftritte weltbekannter Bands erleben. 30 Jahre später gibt es das Festival immer noch, auch wenn ein Wochenendticket mit 321 Euro deutlich teurer geworden ist. Autorinnen und Autoren unserer Redaktion blicken zurück auf einen Ort und ein Festival, das zusammen mit dem Schwesterfestival „Rock am Ring“ in der Eiffel die deutsche Rock- und Feierkultur geprägt hat:
Ronald Hinzpeter, Jahrgang 1960: Der Tag, als dem einstigen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg der braune Ungeist ausgetrieben wurde, war zwar nass, aber großartig: Am 3. September 1977 ging das allererste Rockfestival auf dem Zeppelinfeld über die Bühne, sozusagen die Mutter von „Rock im Park“. Und ich war dabei, 16 Jahre alt und zusammen mit meiner ersten Freundin in einem Charterbus von München aus angereist. Von irgendwo ganz hinten schauten wir zwischen jeder Menge schwer bedröhnter G.I.s zu den ameisengroßen Rockstars auf die Riesenbühne. Videowände waren damals noch nicht erfunden. Den Vogel schoss für mich ein fantastisch aufspielender Udo Lindenberg ab, der schnoddrig behauptete, für seinen Auftritt habe er „so talentierte Jungs“ wie Rory Gallagher, Thin Lizzy und Santana gebucht. Vom verspäteten Headliner Chicago bekamen wir kaum etwas mit, weil wir wieder zum Bus eilen mussten. Im Hinausgehen spielten sie sinnigerweise ihren Durchbruchshit „If You Leave Me Now“. Es war das erste Mal für mich, Teil einer solch gewaltigen Menschenmenge bei einem Freiluft-Rockkonzert zu sein – zum damals horrenden Preis von 25 Mark. Unser kleiner Woodstock-Moment. Aber, ehrlich gesagt: Meine diversen Ausflüge zu „Rock im Park“ in den Nuller- und Zehner-Jahren machten mehr Spaß, denn so richtig gut organisiert war das „Nürnberg Rock Festival ‘77“ nun wirklich nicht. Aber, mit 16 ist das doch völlig wurscht.
Festival feiert Jubiläum: Vor 30 Jahren startete „Rock im Park“
Wolfgang Schütz, Jahrgang 1977: Für immer 90er! Das waren die Jahre der großen Festival-Evolution – und darum pocht im Inneren der Riesen-Musik-Sausen bis heute das Herz aus dieser Zeit. Bis hin zu dem Fakt, dass immer mehr damals junge Menschen auch heute und gealtert noch bei der vermeintlich jetzigen Junge-Leute-Sache sind, siehe auch „Rock im Park“! Jedenfalls, 90er: Das war nix halb Improvisiertes mehr, sondern schon organisiertes Event, der kontrollierte Ausnahmezustand, von außen betrachtet Rock ‘n‘ Roll als florierende Kommerzveranstaltung, im Innen empfunden, aber freilich immer noch Exzess unter unendlich vielen ähnlich Gesinnten, ein bisschen Anarchie und wunderbar wütende Musik dazu. Alles ein bisschen wie Nirvana vielleicht. Aber die spielten leider nicht. Wir fuhren zum Beispiel 97 nach Eindhoven aufs „Dynamo“, tanzten zu Korn und Limp Bizkit und Typo O Negative und Marilyn Manson… – oder lagen vielleicht da gerade dicht im Zelt? Wir waren auch beim ersten Southside 99, da in der Nähe von München, mit Muse noch im kleinen Zelt, mit groß Blur und Live und Placebo… – und tanzten im Nieselregen bei Massive Attack unversehens einer neuen Liebe entgegen. „Rock im Park“ wurde da irgendwann obligatorisch. Und dann für Jahre hinaus die Konservierung des Gefühls selbst: Hier sind die 90er, jedes Jahr, für immer! Und spätestens dann ein Idyll, als aus dem Frankenstadion wirklich in den Park umzogen wurde. Die besten Konzerte in all den Jahren? Wahrscheinlich Tool, womöglich System of a Down, sicher Rage Against the Machine, auf jeden Fall: 90er!
Sarah Ritschel, Jahrgang 1986: Heute wäre mir „Rock im Park“ musikalisch viel zu hart. 2004 war das anders. Damals hatte ich oft Muskelkater im Nacken vom Headbangen und entdeckte gut erzogene Gitarrenbands wie Tocotronic oder Kettcar gerade erst für mich. Statt Kettcar ist mir also das Kotelett im Kopf geblieben. Kotelett morgens um vier. Wir waren endlich eingeschlafen, die trinkfreudigen Campingnachbarn scheinbar auch. Dann klatschte etwas gegen unser Zelt. Ein durchgeschwitztes Iron-Maiden-Shirt? Ein Schottenrock, den damals immer irgendjemand trug? Beides nicht. „Wollt’ser a Kotelett?“ Unaufgefordert schob der Nachbar das nun auf einer Gabel aufgespießte Fleisch durch den Reißverschluss. Ob wir zugebissen haben, will ich gar nicht wissen. Jedenfalls putzten wir am Morgen vorbildlich unsere Zähne. Mit extra spritzigem Mineralwasser. Was passiert, wenn man damit gründlich gurgelt, ist eine andere Geschichte.
Von Slipknot bis Peter Fox: Im Laufe der Jahre kam auch Rap- und Elektro-Musik auf das Rockfestival
Felicitas Lachmayr, Jahrgang 1988: Die Festivalbändchen liegen noch in einer Kiste. 2007 und 2010 steht drauf, ich hätte es nicht mehr gewusst. Was in Erinnerung geblieben ist: drei Tage Dosenravioli, drei Tage Radler aus der Plastikflasche, drei Tage im Zelt. Ich war mitten in der Metal-Phase, immer in Schwarz, immer im Moshpit bei Konzerten. Das Line-up hätte nicht besser sein können: Korn, Machine Head, Stone Sour, Killswitch Engage. Bei den Beatsteaks dann aber recht fröhlich mit der besten Freundin „Hand in Hand“ getanzt. Hängengeblieben ist auch dieser Moment: Mehrere Männer sitzen am Wegrand, grölen und halten Schilder mit Nummern in die Höhe, als wir vorbeilaufen. War damals schon unangenehm, wir haben es weggelacht, wir waren unsichere Teenager. Am Ende brannte ein Dixi-Klo. Das zweite Mal dann im VW-Bus angereist, niemand, der nachts übers Zelt stolpert, Luxus. Unvergessen die Marihuana-Wolke bei Cypress Hill, aber auch Rammstein, die eine gigantische Deutschlandflagge gehisst hatten, auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, noch so ein unangenehmer Moment. War aber schnell verflogen, als Rage Against The Machine zur Reunion-Tour die Bühne betraten. Mit Freunden ganz vorne und irgendwo zwischen „Bombtrack“ und „Killing in the name of“ ging ein Schuh verloren.
Sophia Krotter, Jahrgang 1998: Wer wie ich im Großraum Nürnberg aufwuchs, kam an „Rock im Park“ so gut wie nicht vorbei. Aufregend klang das, was die Älteren vom Festival erzählten – welche krassen Bands sie dort gesehen haben und wie sie sich angeblich durch den Zaun geschmuggelt hätten. Als ich dann 2015 selbst hin durfte (ich war erst 16 und frage mich heute, ob das überhaupt erlaubt war), habe ich mir selbstverständlich ein Ticket gekauft – von meinem eigenen Taschengeld. Und dann kamen endlich diese vier Tage Anfang Juni, an denen ich mit meinen Freundinnen und Freunden auf dem Zeltplatz grillte, mit Gummistiefeln und Regen-Poncho vor einer Bühne herumsprang und nachts kaum ein Auge zumachte. Einmal war unser Kumpel über Nacht nicht in seinem Zelt – ich weiß leider nicht mehr, warum – und schaute am nächsten Morgen nicht schlecht, als ein Fremder drinnen lag. Der hingegen nahm das Ganze eher gelassen und meinte sinngemäß: „Ja mei, ich war halt müde.“ Er blieb dann noch zum Frühstück bei uns sitzen, bis er sich schließlich aufmachte, seine Freunde zu suchen. Martin: Dich habe ich nie vergessen!
Michael Stelzl, Jahrgang 1996: Pesto ist mein Grundnahrungsmittel auf Festivals: Nudeln sind schnell gekocht und auf einer Scheibe Brot schmeckt es genauso gut. Als ich 2017 bei „Rock im Park“ war, waren Gläser allerdings schon verboten, wir hatten unser Pesto deshalb in einer riesigen Tupperdose dabei. Warmes Dosenbier, Mixgetränke aus Korn und lauwarmer Eistee sowie ein abschüssiger Boden erschwerten uns jedoch die Nahrungsaufnahme. Es kam, wozu es kommen musste: Ich kippte in meinem Campingstuhl nach hinten. Ohne Rücksicht auf mich selbst war nun meine einzige Aufgabe, die Tupperdose zu schützen. Ich fiel also auf den Fußweg, hielt die Tupper jedoch stets gerade und gestreckt in die Luft; kein Tropfen ging daneben. Der Sturz auf den Rücken tat zwar durchaus weh, aber das frenetische Jubeln und Klatschen von etwa 30 Personen um mich herum machte jeden Schmerz wieder wett.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden