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Wanderausstellung in St. Anna enthüllt NS-Kinderärzteverbrechen

NS-Ausstellung

Wie Kinderärzte im Nationalsozialismus zu Massenmördern wurden

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    Die Rolle der Kinderheilkunde im Nationalsozialismus  im Umgang mit entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern beleuchtet die Ausstellung „Im Gedenken der Kinder – Die Verbrechen der Kinderärzte in der NS-Zeit“ in St. Anna
    Die Rolle der Kinderheilkunde im Nationalsozialismus im Umgang mit entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern beleuchtet die Ausstellung „Im Gedenken der Kinder – Die Verbrechen der Kinderärzte in der NS-Zeit“ in St. Anna Foto: Archiv

    Manfred Dax hatte nur ein kurzes Leben. Im Mai 1940 geboren, lebte er mit seiner Mutter, der Luftnachrichtenhelferin Dora Dax, in der Leitershofener Straße 15. Doch ihr Sohn reagiere nicht auf die Umwelt, schaute keinen Gegenständen hinterher. 1943 diagnostizierte der Augsburger Arzt Alfred Prückner einen „angeborenen Gehirnschaden“ und zerebrale Krämpfe. Im November liefert ihn seine Mutter schließlich in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee ein. In einem Brief an den dortigen berüchtigten Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser schreibt sie: „Ich ersuche Sie abschließend, mir etwaige Veränderungen gleich mitzuteilen. Heil Hitler.“

    Fünf Wochen später schreibt Faltlhauser an die Mutter, der Zustand ihres Kindes sei bedenklich. Der Arzt, der in Kaufbeuren auch die „Kinderfachabteilung“ leitete, musste sich nach dem Krieg in Augsburg für die Tötung von mindestens 210 Kinder verantworten. In der Akte von Manfred Dax steht mit Datum des Briefes an die Mutter vermerkt: „22.12.43 Heute morgen 1.45 Exitus“. Sein Gehirn, so recherchierte Bernhard Lehmann vom Augsburger Verein Gegen Vergessen im letzten Jahr, wurde an die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie geschickt.

    Die Wanderausstellung „Im Gedenken der Kinder“ ist im Kreuzgang von St. Anna zu sehen

    Manfred Dax ist Teil der Ausstellung „Im Gedenken der Kinder“ im Kreuzgang der St. Anna-Kirche. Konzipiert 2010 von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, wurde die Wanderausstellung seither in 38 Städten gezeigt, meist begleitet von Vorträgen und wissenschaftlichen Symposien zum Thema. Sie setzt sich mit der Einbettung der Medizin in die Ideologie und Praxis der „Rassenhygiene“. Die absichtliche, systematische Tötung, die routinierte Abfolge von der Erfassung und Meldung behinderter Kinder durch niedergelassene Ärzte, die Überstellung in die reichsweit eingerichteten Abteilungen bis hin zur Tötung von etwa 5000 bis 10000 Kindern begann 1939.

    Die Augsburger Initiativen zur Erinnerungskultur ergänzten die Ausstellung um Informationstafeln zu sechs ermordeten Kindern auch in Augsburg. Neben Manfred Dax wird dort Ernst Lossas (1929-44), der Geschwister Günther Schönert (1938-44) und Brigitte Schönert (1940-42) gedacht, die in Kaufbeuren ermordet wurden. Zudem wird an Annemarie S. (1924-39) erinnert, die laut den Akten des Erbgesundheitsgerichts Augsburg mit 15 Jahren zwangssterilisiert wurde und an den Folgen verstarb.

    Medizinhistoriker Volker Roelke: „Ärzte waren keine Opfer“

    Das Geheimprogramm „Kindereuthanasie“ begann noch vor der Deportation der Juden Europas. „Ein Proto-Genozid“, so nennt der Gießener Professor und Medizinhistoriker Volker Roelcke die Tötungen. Mit einem Vortrag über „Kinderheilkunde mit entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern im Nationalsozialismus“, zu der ihn die Augsburger Ärztin Elisabeth Friedrichs zusammen mit einem breiten Bündnis von Initiativen und Vereinen eingeladen hatte, eröffnete er die Wanderausstellung in Augsburg. Etwa 120 Interessierte aus der Augsburger Ärzteschaft, Schulen und Politik folgten dem Referat. Roelcke räumte vor allem mit dem Mythos auf, die Gleichschaltung der Ärzteschaft an die nationalsozialistische Praxis sei „von außen“ erzwungen worden. „Die ärztlichen Organisationen waren keine Opfer. Sie haben sich selbst gleichgeschaltet“, so der Experte. 30 Jahre historische Forschung hätten gezeigt: Die pseudowissenschaftlichen Experimente und Tötung zur „Stärkung des Volkskörpers“ seien in der Medizin bereits vorher populär gewesen.

    An der Organisation der Ausstellung beteiligte sich auch die junge Medizinische Fakultät. Damit gewinnt die Erinnerungsarbeit in Augsburg einen neuen Player, der lokal und deutschlandweit forscht, publiziert und lehrt. Der zuständige Historiker am Institut für Ethik und Geschichte der Gesundheit in der Gesellschaft ist David Freis. Seit drei Jahren lebt er in Augsburg und möchte den Bezug in die Stadtgesellschaft weiter aufbauen. Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus gehöre im Studium ohnehin zum fixen Curriculum. „Wir haben zudem den von niedergelassenen Augsburger Ärzten erarbeiteten bestehenden Rundgang zur Ausgrenzung jüdischer Kollegen für die Studierenden ins Programm genommen.“ Eine solche Exkursion vor Ort stärke die Auseinandersetzung mit den Prozessen und Denkweisen des eigenen Fachs.

    Die Ausstellung „Im Gedenken der Kinder - Die Verbrechen der Kinderärzte in der NS-Zeit" läuft bis zum 28. Februar im Kreuzgang von St. Anna. Wissenschaftliche Vorträge begleiten die Ausstellung, darunter am 28. Januar, 19 Uhr: „Kinder als Opfer der Patient:innenmorde im Nationalsozialismus“, Lehrgebäude, Am Medizincampus 2.

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