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Foto: Georg Wendt, dpa (Archivbild)
Foto: Georg Wendt, dpa (Archivbild)

Giovanni di Lorenzo ist Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Er wird am 20. Mai in Dillingen mit dem Europäischen St.-Ulrichs-Preis ausgezeichnet.

Interview
16.05.2022

"Zeit"-Chefredakteur di Lorenzo: "Journalismus darf kein Elitenprojekt sein"

Von Cordula Homann, Daniel Wirsching

Exklusiv Giovanni di Lorenzo ist einer der bekanntesten Journalisten des Landes. Wie er die Debatte um Waffenlieferungen und die Kritik an Hendrik Streeck erlebt – und worüber er mit Helmut Schmidt stritt.

Herr di Lorenzo, Sie erhalten am 20. Mai den Europäischen St.-Ulrichs-Preis in Dillingen – für Ihre Verdienste um die Einheit Europas. Wie ist es aktuell um Europa bestellt?

Giovanni di Lorenzo: Oh, die Frage ist für mich zu groß.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat Ängste vor einer Ausweitung des Krieges auf EU-Staaten ausgelöst, Ängste vor einem dritten Weltkrieg ...

Di Lorenzo: Und doch wirkt die Europäische Union in dieser traurigen und belastenden Zeit einiger als in vielen Jahren zuvor, als ob der europäische Geist – zu Pfingsten darf man das vielleicht sagen – nochmal über uns niedergekommen ist. Ich glaube, dass durch diesen schrecklichen Angriffskrieg vielen Menschen, die sonst keine besondere Verbindung mehr zu Europa haben, nun bewusst wird, was wir an unseren Institutionen, an unseren Demokratien haben.

Kennen Sie Menschen in der Ukraine?

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Di Lorenzo: Nicht so, wie mehrere Kolleginnen und Kollegen, die für uns arbeiten. Aber auch ich treffe auf Ukrainer, und die sind den Deutschen durchaus dankbar. Nur eines verstehen sie nicht – wenn ihnen unterschwellig signalisiert wird: Unterwerft euch doch endlich, dann verhindert ihr noch schlimmeres Leid!

Zum Beispiel durch einen im Magazin Emma veröffentlichten offenen Brief an SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz.

Di Lorenzo: Vielleicht auch durch diesen Brief, wobei man etlichen Unterzeichnern, die ich kenne, unrecht tut, wenn man ihnen dies unterstellte. Wir haben ja gerade einen anderen offenen Brief, eine Art Gegen-Appell, veröffentlicht. In ihm wird Scholz dazu aufgefordert, die zugesagten Waffenlieferungen an die Ukraine rasch in die Tat umzusetzen und die Sanktionen zu verschärfen.

Haben Sie diese Debatte als besonders vergiftet erlebt?

Di Lorenzo: Ich finde diese Appelle gut: Ich sehe sie als eine Verbesserung der sogenannten Debattenkultur, die wir in den letzten Jahren hatten. Das waren Zeiten, in denen die jeweilige Regierung kaum Diskussionen geführt und wenig kommuniziert hat, um schwierige Entscheidungen zu vermitteln. Auch deshalb ist die öffentliche Debatte weitgehend in die sozialen Medien abgewandert – wo häufig keine Gefangenen gemacht werden.

Mit welchen Folgen?

Di Lorenzo: Viele Menschen in der politischen Mitte fühlen sich nicht mehr repräsentiert. Insofern ist es gut, dass sich diese Appelle nicht auf 280 Zeichen beschränken. Ich finde, sie sind im Ton recht zivilisiert und von dem Bemühen gekennzeichnet, zu argumentieren – und nicht nur eine Parole in den Raum zu stellen oder die andere Seite zu beleidigen oder zu diskreditieren. Ich fand auch den Aufsatz von Jürgen Habermas eindrucksvoll.

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Foto: Arne Immanuel Bänsch, dpa (Archivbild)
Foto: Arne Immanuel Bänsch, dpa (Archivbild)

Dem berühmten Philosophen Jürgen Habermas wurde vorgeworfen, ein Putin-Versteher zu sein.

Der Philosoph unterstützte Scholz, der auf einer "sachlich umfassend informierten Abwägung" bestehe. Und er attestierte "der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung" ein "ungestüm moralisierendes Drängen".

Di Lorenzo: Das macht ihn jedoch nicht zum Putin-Versteher – wie es ihm in Tweets schon unterstellt worden ist! Man kann sehr gut anderer Meinung sein, aber deshalb gleich als Putin-Versteher gebrandmarkt werden? Das erschließt sich mir nicht. So eine Verkürzung und Diskreditierung haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder in der politischen Debatte erlebt: Es wird versucht, Menschen in Schubladen zu stecken – gerade, damit kein Austausch von Argumenten stattfindet.

Wie war die Debattenkultur denn früher, etwa in den 80ern, als Sie einer der Moderatoren der BR-Jugendsendung "Live aus dem Alabama" waren?

Di Lorenzo: Früher war nichts besser, es war nur anders: Es gab lebhafte Debatten, klare Lager – übrigens auch in den Medien. Und wie bei allen wichtigen politischen Auseinandersetzungen gab es damals ebenfalls entsetzliche Ausfälle in Form von Beleidigungen und Diskreditierungen des politischen Gegners.

Aber?

Di Lorenzo: Es gab die sozialen Medien noch nicht, und man war gezwungen, sich persönlich auseinanderzusetzen.

Bei "Live aus dem Alabama" wurde teils heftig gestritten.

Di Lorenzo: Ja, und man ging mitunter unversöhnlich auseinander. Wir hatten junge Rechtsextremisten oder linksextreme Autonome zu Gast, da gab es nichts zu versöhnen. Auch wenn man heute kategorisch sagen würde, solchen Menschen gibt man im Fernsehen keine Bühne. Und das ist in vielen Fällen richtig. Aber spannend war es doch. Es ist auch noch kein Problem dadurch verschwunden, dass man es komplett negiert.

Für Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen führt der Weg aus der Erregungsspirale über "eine Gesellschaft, in der die Ideale des guten Journalismus zur Allgemeinbildung gehören".

Di Lorenzo: Das kann man nur unterstreichen. Und noch etwas: Journalismus darf kein Elitenprojekt sein! Ich halte es für enorm wichtig, dass Medien, die verantwortungsvoll agieren, möglichst viele Menschen erreichen.

Was ist für Sie im Moment das Wichtigste an der Arbeit von Medien?

Di Lorenzo: Zu schildern, wie Dinge wirklich sind. Das ist im Moment vielleicht sogar wichtiger als die Einordnung durch Kommentare – weil so viel Verwirrung da ist und es so schwer ist, die Kolportage von der Reportage zu unterscheiden. Und weil es viele Menschen gibt, die sich anstecken lassen von Fake News, auch in meinem Bekanntenkreis. Da haben mich plötzlich Videos zu Corona erreicht, bei denen ich mich schon fragte: Wie kann das sein?

Haben Sie sich darüber zerstritten?

Di Lorenzo: Wir konnten uns letztlich verständigen.

Dem Journalismus wurde ja vorgeworfen, in der Pandemie versagt zu haben.

Di Lorenzo: Das würde ich so nicht sagen. Ich finde, wir haben früh problematische Seiten der Corona-Politik beleuchtet. Insgesamt ist leider dennoch bei dem einen oder anderen der Eindruck entstanden, Medien seien der Echoraum der Regierung. Vielleicht lag das auch daran, dass von manchen Medien jede abweichende Meinung angegriffen worden ist – und damit meine ich nicht solche von pensionierten Lungenfachärzten, die behaupten, Corona sei bloß ein Schnupfen. Das sollte in seriösen Medien keinen Platz haben.

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Foto: Fabian Sommer, dpa
Foto: Fabian Sommer, dpa

Der oftmals scharf kritisierte Virologe Hendrik Streeck hatte 2020 erklärt, wir müssten lernen, mit dem Coronavirus zu leben. Das sei heute Allgemeingut, so Giovanni di Lorenzo.

Sondern?

Di Lorenzo: Ich denke da an den Epidemiologen Alexander Kekulé oder an den Virologen Hendrik Streeck, der 2020 erklärt hatte, wir müssten lernen, mit dem Coronavirus zu leben. Das ist heute Allgemeingut. Vielleicht kam die Aussage damals zu früh oder hatte zum damaligen Zeitpunkt eventuell sogar eine verharmlosende Wirkung. Aber sie ist keine Position, die in sich nicht legitim wäre. Die beiden wurden für ihre Meinungen angegriffen, auch marginalisiert – und das führte bei einem Teil der Gesellschaft möglicherweise zu der Einschätzung, man könne in diesem Punkt nicht mehr frei diskutieren. Damit meine ich nicht, dass man Corona-Leugnern und anderen Spinnern eine Plattform geben sollte. Sondern, dass man Fragen und Zweifel aufzeigen muss, dass Wissenschaft verschiedene Facetten hat und dass sich auch Wissenschaftler irren können.

Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten so viele Interviews geführt. Welche lassen Sie bis heute nicht los?

Di Lorenzo: Das mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Ich habe es auf dem Höhepunkt der Vertrauenskrise geführt, die durch die Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel ausgelöst wurde. Das Interview war geprägt von purer Aggression aufseiten Erdogans. Ich habe jede Minute damit gerechnet, dass er mich rausschmeißt. Tief beeindruckt hat mich die Begegnung mit Papst Franziskus. Die größten Spuren hinterlassen hat das Interview mit der Auschwitz-Überlebenden Renate Lasker-Harpprecht. Sie war 90, als sie erstmals in dieser Offenheit über das sprach, was ihr widerfahren ist. Wer da nicht tief berührt, beschämt, entsetzt ist, der hat weder ein Herz noch ein Hirn.

Berührte es Sie auch, dass der Papst Sie bat, für ihn zu beten?

Di Lorenzo: Das hat großen Eindruck bei mir hinterlassen, wie das ganze Interview. Wir hatten 45 Minuten, die er dann ausgedehnt hat. Natürlich war ich vorbereitet auf alles, auch auf theologische Fragen. Ich habe mich aber spontan dazu entschlossen, ihm Kinderfragen zu stellen: Beten Sie? Wofür darf man beten? Haben Sie Zweifel? Ist Gott manchmal für Sie weit weg? Darauf hat er sich eingelassen. Und ich kann nicht verleugnen, dass ich mich da auch als Katholik berührt fühlte.

Nach außen tragen Sie das nicht.

Di Lorenzo: Ich will meinen Glauben nicht in der Zeitung kundtun. Das ist nicht meine Aufgabe als Chefredakteur. Mir ist alles Missionarische fremd.

Was würde wohl der 2015 gestorbene frühere Kanzler Helmut Schmidt, den Sie eine Zeit lang "auf eine Zigarette" interviewten, zur gegenwärtigen Debattenkultur sagen – und seiner SPD raten, die wegen ihrer "Russland-Nähe" scharf kritisiert wird?

Di Lorenzo: Darüber habe ich oft nachgedacht in letzter Zeit. Ich glaube, manche Antwort von ihm würde ich fürchten.

In einem Zeit-Interview von 2014 zeigte er Verständnis für Russlands Annexion der Krim und nannte die von EU und USA beschlossenen Sanktionen gegen Russland "dummes Zeug".

Di Lorenzo: Wir haben über Menschenrechtsverletzungen und über die Willkür von Supermächten immer wieder heftig gestritten. Ich muss ihm aber eines wirklich zugutehalten: Er stammte wie Helmut Kohl aus einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat. Ich meine, es war Kohl, der sagte: Wenn man den Geruch von verbranntem Fleisch noch in der Nase habe, dann habe Frieden den absoluten Primat.

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Foto: Bodo Marks, dpa
Foto: Bodo Marks, dpa

Helmut Schmidt - der Altbundeskanzler und damalige "Zeit"-Herausgeber - im April 2014 im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo.

Konnte man gut mit Schmidt streiten?

Di Lorenzo: Ja, und in der Regel war er nicht nachtragend. Manchmal aber schon. Man merkte, wenn er sauer war. Die aktuelle Kommunikation der SPD zu politischen Fragen des Ukraine-Kriegs würde er jedenfalls bestimmt nicht gut finden.

Sie sagten mal, dass Sie nachts Romane lesen – weil "ich sonst meinen Kopf nicht frei kriege von dem ganzen aktuellen Müll". Was lesen Sie gerade?

Di Lorenzo: Mir geht der Ukraine-Krieg so nahe wie noch nie etwas in meinem Berufsleben. Ich schaffe es nicht, angesichts der Bilder und der Berichte eine professionelle Distanz dazu aufzubauen. Deshalb sage ich mir um 22.15 Uhr nach dem heute journal: Jetzt ist genug! Sonst nehme ich die Bilder mit in die Nacht. Umso schöner ist es, dann zu lesen. Seitdem ich mit meinem Freund Florian Illies einen Kunstpodcast mache, lese ich viel über Künstler. Im Moment jedoch sein eigenes Buch "Liebe in Zeiten des Hasses" auf Italienisch.

Auf Italienisch?

Di Lorenzo: Ja, mich interessiert, wie es übersetzt wurde.


Giovanni di Lorenzo, 63, wurde als Sohn einer Deutschen und eines Italieners in Stockholm geboren. Er ist seit 2004 Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit und seit 1989 Moderator der Talkshow "3nach9" (Radio Bremen). Am 20. Mai erhält er in Dillingen den mit 10.000 Euro dotierten Europäischen St.-Ulrichs-Preis. Damit will die Europäische St.-Ulrichs-Stiftung auch ein Zeichen in Richtung der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, vor allem einiger osteuropäischer, setzen – gegen das Erstarken populistischer Kräfte.

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