Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Militärhistoriker Neitzel über Wehrpflicht: „Worauf sollen wir warten? Dass 100 Prozent der Bevölkerung dafür sind?“

Interview

Militärhistoriker Neitzel über Wehrpflicht: „Worauf sollen wir warten? Dass 100 Prozent der Bevölkerung dafür sind?“

    • |
    • |
    • |
    Sönke Neitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, fordert eine Rückkehr zur Wehrpflicht.
    Sönke Neitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, fordert eine Rückkehr zur Wehrpflicht. Foto: Kai Bublitz

    Was, Herr Neitzel, haben Sie gedacht, als US-Präsident Trump Wolodymyr Selenskyj einen Diktator genannt hat?
    SÖNKE NEITZEL: Auch das noch. Man weiß ja, dass Donald Trump eine, sagen wir, eigene Diskursform pflegt, um es diplomatisch zu formulieren. Aber das ist eine neue Qualität.

    Die neue US-Administration hat auf der Münchener Sicherheitskonferenz und danach den Europäern deutlich gemacht, dass sie im Reigen der Großmächte entbehrlich sind. Was passiert hier eigentlich gerade?
    Neitzel: Wir wissen es noch nicht genau, auch wenn wir Zeitzeugen einer ganz grundlegenden Entwicklung sind. Wenn Trump die US-Truppen aus Europa abzieht und den Artikel 5 aufweicht, ist die Nato als transatlantisches Verteidigungsbündnis tot. Und wenn die Europäer nur salbungsvolle Worte finden, aber nichts machen, dann auch. Wenn man die Aussagen von J.D. Vance, von US-Verteidigungsminister Pete Hegseth und Trump ernst nimmt, bedeutet das letztlich die Zerstörung der Nato. Wir kehren also in die 1920er Jahre zurück, in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, als Frankreich und Großbritannien die Garantiemächte des Völkerbundes waren.

    Beide sind auch heute Atommächte...
    NEITZEL: ... die aber militärisch auch auf wackligen Füßen stehen. Was wir wirklich erleben, wissen wir noch nicht genau. Denn damals waren die USA ökonomisch durchaus global engagiert, allerdings eben nicht politisch und militärisch in Europa.

    Das Problem ist doch auch: Niemand weiß wirklich, wohin die neue Administration tatsächlich will. Denn ganz am Ende haben die USA doch kein Interesse an einem hoch gerüsteten Europa, das militärisch zum Machtfaktor wird.
    NEITZEL: Man muss sehen, dass die Nato immer auch ein amerikanisches Machtinstrument war. Die Europäer haben das akzeptiert, weil unser Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg verheert war. Und man hatte eine Wertegemeinschaft, man hat eine gemeinsame Sprache gesprochen und im Kalten Krieg hat Europa erheblich mehr in Verteidigung investiert. Allein die Deutschen haben damals 50 Prozent der Landstreitkräfte in Mitteleuropa gestellt. Damals konnten sie einen militärischen Beitrag leisten, der politisches Gewicht hatte. In den 1990er Jahren ging das verloren. Denken Sie an den Kosovo-Krieg: Von den Luftangriffen gegen Serbien hat die deutsche Luftwaffe drei Prozent der Einsätze geflogen. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wer weiß schon, wie weit Trump demontieren will und kann, was in rund 80 Jahren gewachsen ist? Klar aber ist eines: Wenn Putin wahrnimmt, dass Trump tatsächlich nicht mehr seine schützende Hand über Europa hält, dann ist ein größerer Krieg in Europa wahrscheinlicher geworden.

    Der Westen ist in der Geschichtswissenschaft als Begriff schon lange äußerst umstritten. Spitzen wir mal zu: Wenn es ihn nie wirklich gab, geht gerade doch gar nicht so viel zu Ende, oder?
    NEITZEL: Stimmt, der „Westen“ ist ein schwieriger Begriff, weil sehr unterschiedlich definiert. Aber die ihm zugeordneten parlamentarischen Monarchien und Republiken sind doch alle liberale, rechtsstaatliche Demokratien - von Südkorea bis Kanada. Aber das Ende des Westens? Ich mag diese Schlagworte nicht. Das von der Zeitenwende oder noch berühmter Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“. Jetzt endet angeblich der Westen. Ich will die Dramatik der Ereignisse gar nicht kleinreden, aber wir leben schon in Zeiten, in denen gilt: Je steiler die These, desto größer die Aufmerksamkeit. Ich rate dazu, einen Schritt zurückzutreten, zu prüfen, was wirklich passiert und verbal eine Ebene tiefer anzusetzen. Wir sehen die Neuausrichtung der amerikanischen Europapolitik. Und das passiert mit jahrelanger Ansage. Ob das gleich zur Zerstörung des gesamten Westens führt - abwarten. Entscheidend für den Moment ist, wie Europa reagiert.

    Die EU hat in den vergangenen drei Jahren nicht mal die Beschaffung effektiv vereinheitlicht. Sie hat inzwischen einen Verteidigungskommissar, der aber ein König ohne Reich ist. Und in einer sehr entscheidenden Phase muss eine neue deutsche Regierung erst noch gebildet werden. Deshalb zunächst nochmals der Blick zurück: Wann war die Bundeswehr das letzte Mal in der Lage, einem Aggressor wie Russland zu widerstehen?
    NEITZEL: Das hängt natürlich immer von den Angriffsszenarien ab, aber den Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit hatte die Bundeswehr Mitte der 70er und Mitte der 80er Jahre erreicht. Dann fiel die Mauer, ab den 2000er ging es wie im Sturzflug bergab. 2015 war die Bundeswehr auf dem Tiefpunkt ihrer Leistungsfähigkeit. Seither geht es langsam bergauf. In der Mitte der 80er war die Bundeswehr mit den Bündnispartnern in der Lage, einen Großangriff wahrscheinlich aufzuhalten. Sie war darauf ausgerichtet und hatte mit den Reservisten eine Stärke von 1,2 Millionen Soldaten. Aber das ist ja nicht das Szenario, von dem wir heute ausgehen. Das wäre doch eher ein begrenzter Angriff auf einen der baltischen Staaten und nicht der Vorstoß dreier russischer Panzerarmeen auf Warschau. Die Frage lautet nicht nur: Ist Deutschland verteidigungsfähig, sondern immer auch: Gegen welchen Angriff?

    Gleiches gilt für Europa. Zwar haben die EU-Staaten angefangen aufzurüsten, aber letztlich sind drei Jahre verloren. Woran liegt es - in historischer Perspektive?
    NEITZEL: Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist in den 50er Jahren gescheitert, damals war eine europäische Rüstungsagentur vorgesehen, aber seither sind wir in dem Bereich nicht wirklich vorangekommen. Es liegt daran, dass die wirtschaftspolitischen Interessen der Mitgliedstaaten noch immer höher waren als die wahrgenommenen Bedrohungen. Ich habe eine Wette mit dem französischen Militärattaché laufen. Ich sage, dass Frankreich niemals einen deutschen Panzer kaufen wird. Und ich werde gewinnen. Europa hatte nie eine wirkliche Rüstungsstrategie. Hinzu kommt: In dieser entscheidenden weltpolitischen Lage ist die deutsch-französische Achse schlecht belastbar. Helmut Kohl würde sich im Grabe herumdrehen, wüsste er, wie es um das Verhältnis zwischen Paris und Berlin bestellt ist. Er hatte einen Plan von Europa. Aber allein die Rüstungsstrategie, die in Deutschland im Dezember verabschiedet wurde, ist ein Witz. Man ist nicht bereit, die Schmerzgrenze innenpolitisch zu überschreiten, man denkt nicht groß genug.

    Schafft es das Sprengen der Ampel am Tag der Wiederwahl Trumps als besonders historisches Versagen in die Geschichtsbücher?
    NEITZEL: Das Ende der Ampel zeigt, woran das Land eigentlich krankt: Die Parteien stufen ihre eigenen Interessen höher ein als die des Landes und ihrer Bevölkerung. Die Minister haben aber dem Land den Eid geschworen, nicht der Partei. Weimar ist an vielen Dingen gescheitert, aber auch daran, dass es den Parteien an Kompromissfähigkeit mangelte. Nehmen Sie das Beispiel der Wehrpflicht. Alle Militärexperten sagen, wir brauchen sie in der ein oder anderen Form wieder. Über 50 Prozent der Bevölkerung sind für die Wiedereinführung. Die FDP sagt nein, die SPD sagt nein. Aber worauf wollen wir denn bitte schön noch warten? Dass 100 Prozent der Bevölkerung dafür sind? Adenauer hat 1956 gegen erhebliche Widerstände entschieden, dass es wieder eine Wehrpflicht gibt. Die Dinge sind heute doch völlig klar, die meisten Militärs sind völlig klar, aber man muss auch entscheiden wollen.

    Zur Person

    Sönke Neitzel ist Professor für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Im März erscheint sein neues Buch „Die Bundeswehr – Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende“ (C.H. Beck)

    Diskutieren Sie mit
    2 Kommentare
    Martin Müller

    Sönke Neitzel sagt Vieles, aber warum es eine Entscheidung für die Wehrpflicht braucht, sagt er nicht. Nirgends. Er führt sie lediglich als Beispiel für mangelnde Entscheidungsfreude der Politik an. Und im Beispiel stützt er sich zusammengefasst auf: Ist doch klar, alle wissen es - trust me bro. Ich denke es ist überhaupt nicht klar und am Ende eine teure, ineffiziente Schnapsidee. Woher ich das nehme? Glauben Sie es mir einfach!

    Michael Bauer

    Deutschland hat 180 000 Soldaten ! Lt. Bundesverteidigungsminister Pistorius sind für einen Konflikt ca 205 000 nötig, d.h es sind noch 25000 nötig Und dafür wollen Sie eine allgemeine Wehrpflicht einführen Im übrigen werden sich alle Staatsbedienstete im besten Wehralter, unter anderem auch ein Professor Neitzel freiwillig für einen Wehrdienst melden oder werden von ihrem Dienstherrn für aktive Militärforschung vor Ort abgeordnet

    Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.

    Registrieren sie sich

    Sie haben ein Konto? Hier anmelden